> | 3. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 01.07.2005 |
Antoine Compagnon stellte unlängst fest, dass man in
Frankreich im Bereich der Literaturbetrachtung vor den sechziger Jahren kaum
Bewegungen gekannt hatte, die dem russischen Formalismus, dem
angloamerikanischen New Criticism, der deutschen Stilkritik oder dem
Antipositivismus eines Croce vergleichbar gewesen wären. Bezeichnenderweise war
das Handbuch von René Wellek und Austin Warren Theory of Literature, das
1949 in den Vereinigten Staaten erschien, in zahlreiche Sprachen übersetzt
worden, nicht aber ins Französische. Erst 1971 erschien das Buch auf
Französisch, ohne je in einer Taschenbuchausgabe vorzuliegen. Leo Spitzer
erklärte diesen Rückstand aus dem französischen Überlegenheitsgefühl, das sich
aus einer langen literarischen Tradition herleitete, aus der Prädominanz des
positivistischen Ansatzes und der Quellenforschung sowie aus der kanonisierten
Schulpraxis der explication de texte.1 Erst mit dem Beginn der sechziger
Jahre setzte dann eine sehr intensive Phase der Literaturtheorie in Frankreich
ein, als ob man den Rückstand nun schnell aufholen wollte.
Ab 1960 setzte sich in Frankreich eine formale Schule
der Literaturbetrachtung durch, die sich nicht mehr an der Kategorie des
Subjekts und der Geschichte orientierte. Verkörpert wurde diese Tendenz vor
allem durch Roland Barthes und Gérard Genette. In einem Aufsatz mit dem Titel
"Structuralisme et critique littéraire", der 1966 im Sammelband Figures
erschien, sprach Gérard Genette von der 'strukturalistischen Berufung' der
Literaturkritik.2 Die strukturale Methode sei gerade dann besonders hilfreich,
wenn die Kritik davon absehe, die Bedingungen der Möglichkeit oder die äusseren
Determinanten der literarischen Werke zu untersuchen, sondern nur diese selbst
als "ein absolutes Wesen".
Die strukturale Analyse könne als das Äquivalent dessen angesehen werden, was
die Amerikaner als close reading und die Europäer im Gefolge von Spitzer
als immanente Literaturbetrachtung bezeichneten. Dieser Typus von Analyse
verleihe dem immanenten Ansatz eine Rationalität des Verstehens, die die
Rationalität des Erklärens ablöse. In noch radikalerer Weise bezeichnete
Genette 1972 in seinem Band Figures III die Literaturbetrachtung seit
der Romantik als einen Irrweg, weil sie den Text nur auf eine kollektive oder
individuelle Psyche, die des Autors oder die des Lesers beziehe. Der Text müsse
jedoch nur in seiner internen Logik betrachtet werden. Eine Theorie der
Literatur habe das Gesamt der existierenden, aber auch der virtuellen
literarischen Formen zu betrachten.
Die Fixierung auf den einen Text wurde so seit den
sechziger Jahren zur dominanten Form der Literaturbetrachtung in Frankreich. Es
ist auch bezeichnend, dass Genette in seinem Buch als deutsche Autoren fast nur
Vertreter der (formalen) Erzähltheorie erwähnt (K. Hamburger, E. Lämmert, F.K.
Stanzel).
Selbstverständlich gab es neben dem 'Textualismus'
auch andere Richtungen etwa den genetischen Strukturalismus eines Lucien
Goldmann und den Ansatz Sartres.
Lucien Goldmann sah wie der junge Lukács den sozialen
Charakter der Kunst nicht in der Widerspiegelung von gesellschaftlichen
Inhalten.3
Dem Bezug Kunstform/Lebensform bei Lukács entspricht bei Goldmann die Homologie
der Strukturen des literarischen Werkes mit den Denkstrukturen gewisser
sozialer Gruppen. Goldmann geht von der Annahme aus, dass kulturelle
Schöpfungen als Sinnstrukturen nur durch eine genetische Methode erklärt werden
können. Nur der Bezug zu einer sozialen Gruppe erlaubt es nach Goldmann, ein
Werk in seiner Gesamtheit zu erklären und zu verstehen. Wenn Goldmann die
soziale Gruppe als eigentliches Subjekt der kulturellen Schöpfung betrachtet,
dann stellt er sich diesen Prozess folgendermaßen vor: innerhalb einer sozialen
Gruppe bilden sich Gefühle, Neigungen, und Ideen heraus, die aus ihrer
wirtschaftlichen und sozialen Situation entspringen und die eine gemeinsame
Tendenz aufweisen. Im Kollektivbewusstsein einer Gruppe oder einer Klasse
entwickeln sich so die Elemente einer ‘Weltanschauung’, die dann in großen
künstlerischen oder philosophischen Werken Ausdruck findet, deren Strukturen
derjenigen entspricht, auf die die Gesamtheit der Gruppe zustrebt.
Sartre stellt die Literatur als nicht einzigartigen in
sich geschlossenen Bereich dar. Zweifellos war Sartre selber Schriftsteller,
aber es gibt bei ihm auch einen Diskurs über die Literatur. Dieser Diskurs wird
von ihm nicht als ein rein immanenter verstanden. Für Sartre enthält die
Literatur selber nicht die Schlüssel ihrer Entzifferung. “Die Technik eines
Romans weist stets auf die Metaphysik des betreffenden Romanciers hin. Die
Aufgabe des Kritikers ist es, sich zuerst über diese Metaphysik Klarheit zu
verschaffen, ehe er die Technik des Romans beurteilt”.4 Man kennt diesen berühmten
Satz, den Sartre im Kontext seiner Faulkner gewidmeten Studie äußerte.
Alle Ansätze der Literaturbetrachtung, die die
Literatur innerhalb eines größeren Ganzen verorten, müssen sich die Frage nach
dem eigentlichen Subjekt des literarischen Schaffens stellen. Seit dem Ende der
sechziger Jahre hatte Sartre in seinen Questions de méthode das
heuristische Ungenügen einer marxistischen Methode kritisiert, die sich nur an
der Dimension des Wirtschaftlichen - einer abstrakten, universellen Kategorie -
als Determinante des kulturellen Schaffens orientierte und dabei die Vielfalt
konkreter Vermittlungsschichten vernachlässigte. Das Besondere eines
literarischen Werkes ist nach diesem Ansatz der simple Effekt des Zufalls, weil
man sich an Erklärungskriterien hält, die von einem abstrakten Universalismus
ausgehen. Der Verfasser der Questions de méthode hat sehr gut die Aporie
einer solchen Erklärung zum Ausdruck gebracht, als er schrieb: “Es besteht kein
Zweifel darüber, dass Valéry ein kleinbürgerlicher Intellektueller ist. Aber
nicht jeder kleinbürgerliche Intellektuelle ist Valéry.”5
Sartre sieht diesselbe Art eines abstrakten
Universalismus in einer marxistischen Interpretation, die unterstreicht, dass
“der Realismus Flauberts in wechselseitig symbolisierender Beziehung zur
sozialen und politischen Entwicklung des Kleinbürgertums des Second Empire
steht.”6
Dieser Ansatz gibt sich mit dieser sehr allgemeinen Aussage zufrieden, ohne die
Entstehung dieser reziproken Perspektive zu erkläre, ohne auf die Frage zu
antworten, warum Flaubert die Literatur allem anderen vorgezogen habe und er
gerade diese Bücher geschrieben habe und nicht solche in der Art von
Duranty oder der Brüder Goncourt. Das Besondere des Lebens und der Person des
Autors werde nicht erhellt. Flaubert ist ein Bourgeois, weil er aus der
Bourgeoisie stammt. Aber weder die Grundrente noch seine intellektuelle Anlage
machen aus ihm einen Bourgeois. “Flaubert lernte, geprägt von den
Besonderheiten einer Lebensgeschichte und den Widersprüchen, die dieser
Familie eigen waren, verschwommen seine Klasse kennen [...] das Kind wird so
oder so, weil es das Allgemeine als Besonderes lebt.”7 Für Sartre ist das
Erklärungsprinzip der Besonderheit eines literarischen Werks in den Prägungen
zu suchen, die ein Individuum in seiner Kindheit erfahren hat: “Diese explosive
Mischung aus naiver Wissenschaftsgläubigkeit und gottloser Religion, die
Flaubert konstituiert und die er durch die Liebe zur formalen Kunst zu
überwinden versucht, werden wir erklären können”, so Sartre, “wenn wir genau
verstehen, dass sich alles in der Kindheit abgespielt hat, d.h.
innerhalb einer conditio, die sich radikal von der erwachsenen conditio
unterscheidet: Die Kindheit formt unüberwindbare Vorurteile aus, sie lässt in
der Gewalt der Zucht und Verwirrung des dressierten Tieres die
Milieuzugehörigkeit als einzelnes Ereignis empfinden.”8. Aus
diesem Grund glaubt Sartre, dass die Psychoanalyse ein geeignetes
Instrumentarium darstellt, um im Erwachsenen “auch das Gewicht seiner
Geschichte”9 wiederzufinden.. Der Existentialismus kann die psychoanalytische
Methode integrieren, weil sie “die einzelne Familie als Vermittlung zwischen
der allgemeinen Klasse und dem Individuum entdeckt hat.”10
Sartre vergleicht Flaubert und Baudelaire, die beide
im selben Jahr geboren sind, und erklärt die Spezifität ihrer Werke aus
soziologischen und psychologischen Gründen. Flaubert stammte aus einer noch
ungeschliffenen Neu-Bourgeoisie, während Baudelaires Familie zu einer viel
älteren städtischen Bourgeoisie zählte. Flauberts psychologisches Profil werde
durch eine Vater-Fixierung bestimmt, während Baudelaires Mutter-Fixierung
offensichtlich sei. Man müsse beide Dimensionen im Auge behalten, was möglich
sei durch eine Psychoanalyse, wie sie Sartre sah, die “einerseits auf objektive
Strukturen, auf materielle Bedingungen und andererseits auf die Auswirkung
unserer unaufhebbaren Kindheit auf unser Erwachsenenleben”11 verweist. Man könne darum
ein Werk wie Madame Bovary nicht bloß mit der politisch-sozialen
Infrastruktur und mit der Entwicklung des Kleinbürgertums in Verbindung
bringen: “Man muss das Werk auf die Flaubert gegenwärtige Realität, wie sie von
ihm in seiner Kindheit gelebt wurde, beziehen.”12
Das literarische Werk verweist so nicht bloß auf einen
Zeitpunkt, auf eine unmittelbare zeitgenössische Epoche, sondern auch
auf andere Zeitschichten, die sich dem Zustand der Familiensituation verdanken,
die ihrer Zeit voraus oder hinter ihr zurück sein können. Sartre spricht darum
von der ‘Hysteresis’ des Werkes (Fortdauer einer Wirkung nach Aufhören der
Ursache) gegenüber der Epoche des unmittelbaren Erscheinens. Das Besondere
zeitgenössischer Ereignisse äußere sich immer durch “die außerordentliche
Vielfalt ihrer zeitlichen Tiefe”: “Es kommt eine Zeit, da Flaubert seiner Zeit voraus
zu sein scheint (zur Zeit der Madame Bovary, weil er hinter ihr zurück
ist, weil sein Werk unter einer Maske der von der Romantik angewiderten
Generation die nachromantische Verzweiflung eines Schülers von 1830
ausdrückt).” 13 Kurz, Flaubert verwirklichte “die paradoxe Vereinigung zweier bereits
überwundener Momente dieses intellektuellen Kleinbürgertums (1830-1845).”14
Darum finde man zwei Dimensionen im Werke Flauberts:
eine pessimistische Sicht, die die jungen Leser, die Scham über das Scheitern
ihrer Revolution von 1848 empfanden, darin suchten und eine positive Sicht,
einen ästhetischen Mystizismus, den bloß Baudelaire im Werk Flauberts zu sehen
verstand.
Pierre Bourdieu distanzierte sich seinerseits von
einem Ansatz, der sich am Werk allein orientiert gemäß “einer immanenten
Ästhetik, die es sich zur Vorschrift macht, das Werk als ein System zu
behandeln, das seinen Sinn und seinen Grund in und aus sich selbst hat und aus
der eigenen Kohärenz die Prinzipien und Normen seiner Dechiffrierung bestimmt.”15
Diese Sichtweise, die den Anspruch der Nicht-Rückführbarkeit des literarischen
Werkes behauptet, ist letztlich auch einer vor-wissenschaftlichen Kategorie
verpflichtet - der des hypostasierten ‘Werkes’ und sie versagt sich durch diese
Vorannahme, das Werk in einem umfassenden System zu situieren, dessen Teil es
auf jeden Fall ist.
Eine externe Ästhetik - gemäß der Terminologie
Bourdieus - versucht wohl die Werke in einer umfassenderen Struktur zu
verorten; es gelingt diesem Ansatz gewöhnlich “nur um den Preis einer
verstümmelnden Reduzierung, das Werk mit den ökonomischen, sozialen und
kulturellen Bedingungen seiner künstlerischen Erzeugung in Beziehung zu
setzen.”16 Dieser nicht-dialektische Ansatz, der im Werk eine unmittelbare
Widerspiegelung einer gegebenen sozio-ökonomischen Situation sieht, vernachlässigt
die zahlreichen Vermittlungsschichten zwischen dieser Situation und dem
kulturellen Produkt.
Für Bourdieu sind literarische oder künstlerische
Werke nicht schlicht Ausdruck einer sozialen Klasse. Denn er lehnt einen
substanzialistischen Klassen-Begriff ab. Er lehnt gleichzeitig die Dichotomie
‘Individuum’ und ‘Gesellschaft’ ab, zwei Begriffe, die ihm vor-wissenschaftlich
erscheinen. Die Feld-Theorie, die nicht vom Postulat einer globalen
Gesellschaft ausgeht, sondern von einem sozialen Raum, der aus einer Vielzahl
von (relativ) autonomen Feldern besteht, setzt eine Reihe von Bruchstellen mit
der marxistischen Theorie voraus. Sie bedeutet zunächst den Bruch mit dem
Konzept der sozialen Klasse und damit mit der “tendenziellen Privilegierung der
Substanzen - im vorliegenden Fall die realen Gruppen, deren Stärke, Mitglieder,
Grenzen man zu bestimmen sucht - auf Kosten der Relationen.”17 Es
bedeutet aber auch den Bruch mit der Idee einer ‘letztinstanzlichen’
Determination durch das Ökonomische. Darin ähnelt Bourdieu wiederum Sartre, der
ebenfalls den Ökonomismus als eine Art Idealismus ablehnte. Wenn Bourdieu Marx
die Kategorie des Kapitals entlehnte, so reduzierte er dieses keineswegs auf
das ökonomische Kapital, sondern unterschied zwischen kulturellem, sozialem und
symbolischem Kapital.
Wenn Bourdieu den substanzialistischen Oppositionen
zwischen ‘Individuum’ und ‘Gesellschaft’, zwischen ‘Individuum’ und ‘Klasse’
keinen heuristischen Wert beimaß, so suchte er gleichzeitig, diese Antinomien
zu überwinden durch zwei zentrale Kategorien, die des ‘Habitus’ und die des
‘Feldes’, die er gerade in seiner Analyse der Genese kultureller Werke
entwickelt hatte. Untersuchungsgegenstand ist bei Bourdieu, wie gesagt, nicht
die Gesellschaft, sondern das Soziale. Das Soziale ist in zwei Formen präsent:
als objektivierte Geschichte in Gestalt von Institutionen (Feld) und in
Form leibhaft gewordener Geschichte (Habitus). Man muss sich beim
Feld-Konzept davor hüten, diese räumliche Kategorie als hierarchisierten
sozialen Raum zu denken; es geht hier nicht um Über- und Unterbau; die
symbolische und die materielle Dimension werden nicht hierarchisch gesehen. Das
(räumliche) Modell des Feldes dient schlicht dazu, Positionen anzuzeigen; es
ist ein Konstrukt, um Relationen sichtbar zu machen18. Der Ansatz ist dem
relationellen Denken (vs. Substanz-Denken) verpflichtet, das nach Cassirer (Substanz
und Funktion), auf den sich Bourdieu beruft, den Denkmodus der modernen
Wissenschaft darstellt. Der soziale Raum wird konstituiert durch verschiedene
(relativ) autonome Felder: das Feld der Politik, das Feld der Wirtschaft, das
Feld der Kunst und so weiter. Jedes Feld wird bestimmt durch seine
Eigengesetzlichkeit. Die Grenze, die das Feld zwischen den Kompetenzen und
Charakteristika seiner Akteure und den Akteuren anderer Felder aufrichtet,
bestimmt den Grad seiner Autonomie. Die einzelnen Bereiche sind real
voneinander differenziert; insofern ist der Feld-Begriff auch ein territoriales
Konzept: er bezeichnet ein Kraft- und Machtfeld. Durch die Unterstreichung des
agonistischen Charakters des Feldes weist der Begriff eine gewisse Nähe zu
Foucaults Macht-Konzept oder zu Lyotards Widerstreit auf, unterscheidet sich
aber entschieden von der Idee einer herrschaftsfreien Kommunikation à la
Habermas.
Bourdieu geht gegenüber dem Foucaultschen Ansatz von
einer Korrespondenz von mentalen und sozialen Diskursstrukturen und -positionen aus;
er postuliert eine Homologie zwischen dem Feld der Stellungnahmen - im literarischen Feld wären das die einzelnen Werke
- und dem Raum der Stellungen im Produktionsfeld. Da
aber menschliches Handeln oder eine philosophische oder literarische Äußerung für
Bourdieu nicht bloß Epiphänomen einer Struktur ist, braucht er eine Kategorie,
um das Handeln, die Stellungnahmen der Akteure zu erklären, und das ist die
Kategorie des Habitus, das zweite große theoretische Konzept
Bourdieus. Der Begriff geht zurück auf Panofskys Gothische Architektur und
Scholastik. Durch die Kategorie des Habitus soll die Antinomie zwischen
Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Finalismus und Determinismus überwunden
werden. Mit dem Habitusbegriff wendet sich Bourdieu gegen das voluntaristische
Konzept Sartres, das jede gesellschaftliche Prädetermination ausschließt; er
wendet sich auch gegen die Vorstellung einer mechanistischen Determination, die
er bei den 'Strukturalisten' am Werk sieht, sei es durch den 'menschlichen
Geist' bei Lévi-Strauss, die Episteme bei Foucault, die ökonomische
Produktionsstruktur bei Althusser. Die sozialen Akteure sind in seinen Augen
nicht blinde Träger von objektiven Strukturen. Der Habitus ist eine generative
Idee; er bezeichnet die generativen Fähigkeiten der Personen, ihre
Dispositionen; es sind aber immer erworbene, gesellschaftlich konstituierte
Dispositionen.
Die geschichtliche Entwicklung ist in den Augen
Bourdieus ein Differenzierungsprozess, in dessen Verlauf die verschiedenen
Felder der symbolischen Produktion sich ausgebildet und autonomisiert haben. In
seinem Buch Méditations pascaliennes (1997), das nun als letztes zu
Lebzeiten des Autors auf deutsch erschienen ist, zeichnete er diesen Prozess
der Autonomisierung genau nach. Als erstes Feld bildete sich nach dieser
Rekonstruktion im 5. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland das
philosophische Feld aus, das sich gegenüber dem politischen und dem religiösen
Feld verselbstständigte. Die Konfrontation in diesem Feld vollzog sich in einer
“Suche nach Regeln der Logik, die von einer Suche nach den Regeln der
Kommunikation und der intersubjektiven Übereinkunft nicht zu trennen ist.”19 Im
Italien der Renaissance wurde dieser Prozess der Differenzierung wieder
aufgegriffen und die wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen
Felder emanzipierten sich gegenüber dem philosophischen Feld. Ein eigenes
ökonomisches Feld bildet sich nach Bourdieu erst am Ende einer langen
Entwicklung aus, im Laufe derer die symbolische Dimension der
Produktionsbeziehungen vernachlässigt und das Feld als ein geschlossenes
Universum betrachtet wird, das bloss mehr durch die Gesetze des
Interessenkalküls, der Konkurrenz und der Ausbeutung bestimmt wird.
Die Felder der symbolischen Produktion konnten sich
nur ausbilden, indem sie die ökonomische Dimension der symbolischen Produktion
einer niedrigen Welt der reinen Ökonomie zuwiesen.20 Bourdieu zitiert hier als
Beispiel der Verdrängung der materiellen Bedingungen die symbolischen Praktiken
zu Beginn des Autonomisierungsprozesses des künstlerischen Feldes.
Im zweiten Teil seines Buches Les règles de l’art
situiert Bourdieu den Beginn des Prozesses der künstlerischen Autonomisierung
zur Zeit der Renaissance. Er verweist hier auf die Analysen von Francis
Haskell, der am Beispiel der italienischen Barockmalerei “die allmähliche
Herausbildung eines seinen eigenen Normen gehorchenden künstlerischen Feldes
und das Auftauchen einer sozial deutlich unterschiedenen Kategorie von
Berufskünstlern nachzeichnet, die immer mehr dazu neigen, keine anderen Regeln
gelten zu lassen als die einer spezifischen Überlieferung, die sie von ihren
Vorläufern empfangen haben” und die ihnen erlauben, ihr Schaffen von den
Vorgaben der Kirche und der politischen Machtinstanzen zu befreien.21
Für das Florenz des 15. Jahrhunderts lasse sich dann für den Bereich der Kunst
(Form/Stil) die Ausbildung einer eigenen künstlerischen Legitimität
feststellen, die sich nicht mehr den religiösen und politischen Normen
unterordne. Diese Bewegung in Richtung Autonomie sei jedoch während mehr als
zwei Jahrhunderten unterbrochen worden, unter dem Einfluss der absoluten
Monarchie und der Gegen-Reformation, die sich beide bemühten, dem Teil der
Künstler, der sich vom Handwerks-Status gelöst hatte, ohne in die herrschenden
Klassen integriert zu werden, eine soziale Position und Funktion zuzuschreiben.22
Die Tendenz in Richtung Autonomie der Kunst und der
Literatur zeichnet sich dann ab, wenn der Künstler oder der Dichter sein Werk
signiert, um mit seinem Namen den eigenen Kunst- und Stilwillen zu bezeugen,
und so das Werk auch aus einer rein religiösen oder politischen Finalität zu
lösen. Eine absolute Trennung zwischen den beiden Prinzipien wird es indes nie
geben; die Beziehung zwischen den beiden Prinzipien ist immer als eine
dynamische zu sehen, wie es im übrigen Pierre Bourdieu selber unterstrichen
hat: “Das literarische und künstlerische Feld ist in jedem Augenblick der
Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen den beiden
Hierarchisierungsprinzipien, dem heteronomen Prinzip, das denen dient, die das
Feld ökonomisch und politisch beherrschen und dem Prinzip der Autonomie [...].
Der Grad der Autonomie variiert je nach der Epoche und nach der nationalen
Tradition, die die gesamte Struktur des Feldes bestimmen.”23
Zweifellos entsteht um 1850 ein neuer Typus eines
literarischen Feldes. Bourdieu spricht hier von der “kritischen Phase der
Entstehung des Feldes” und von der “Eroberung der Autonomie”.24
Diese Periodisierung teilt Bourdieu mit Jean-Paul Sartre, der in seiner Analyse
in Qu’est-ce que la littérature auch von der Entdeckung der Autonomie
der Literatur spricht, die nun in eine reflexive Phase trete und erstmals gegen
ihr eigenes (bourgeoises) Publikum schreibe. In analoger Weise stellt Roland
Barthes in Le degré zéro de l’écriture um 1850 eine Veränderung der
Schreibweise fest, die nun nicht mehr ein bloßes Instrument sei. Ein autonomes
literarisches und künstlerisches Feld bildet sich, wie Bourdieu ausführt,
gerade in dem Augenblick, als das Bürgertum sich daran schickt, das Feld der
literarischen Produktion völlig unter seine Kontrolle zu bringen. Der
Widerwille, den die Parvenus ohne Kultur bei Flaubert oder Baudelaire
auslösten, förderte den Bruch mit der sie umgebenden Welt, der notwendig war,
damit sich die Welt der Kunst, der Literatur als ein gesonderter Bereich
konstituieren konnte: “ein Reich innerhalb des Kaiserreichs”. Die
Konstituierung einer ‘reinen Kunst’ widerspiegelt so nicht Tendenzen des sozialen
und politischen Bereichs, sondern artikuliert sich vielmehr als Reaktion.
Das Scheitern der Revolution von 1848 und die Trostlosigkeit des Second Empire
trugen zur Enttäuschung der politischen und sozialen Hoffnungen bei, die den
Kult der reinen Kunst - ‘l’art-pour-l’art - als Prinzip und letzte Instanz
erscheinen ließen: “Es gibt nichts mehr [...] Man muß sich einschließen und
gebeugten Hauptes sein Werk fortsetzen wie ein Maulwurf.” So fasste Flaubert
1858 eine Stimmung, die nicht nur er so empfand.
Die Position des ‘l’art-pour-l’art’ bildete sich nach
Bourdieu gegen diejenige des ‘art bourgeois’, aber auch des ‘art social’, die
sich beide über ihre Haltung zu feldexternen sozialen Instanzen
definierten. Die Vertreter des ‘art social’ und des ‘art réaliste’ teilten mit
dem Lager des ‘l’art-pour-l’art’ die Ablehnung der Bourgeoisie und der
bourgeoisen Kunst. Wenn unter dem Begriff ‘réalisme’ in der öffentlichen
Debatte alle Tendenzen subsumiert wurden, die die bestehende Ordnung zu
bedrohen schienen, so distanzierten sich doch Flaubert und Baudelaire
ausdrücklich von dieser Zuordnung. Die Vertreter des ‘l’art-pour-l’art’ gingen
in ihrer Opposition viel weiter. Ihre ästhetische Distanz stellte das
eigentliche Prinzip einer symbolischen Revolution dar. Sie hatten sich vom
moralischen Konformismus des ‘art bourgeois’ ebenso entfernt wie von den
ethischen Zugeständnissen einer sozialen oder realistischen Kunst, die das Volk
hypostasierte. Für die Position des ‘l’art-pour-l’art’ gab es keine soziale
Entsprechung im Feld der Macht. So entstand der neue Typ des modernen
Schriftstellers oder Künstlers, “der moderne Schriftsteller oder Künstler als
Vollzeitprofessioneller, der sich seiner Arbeit total und ausschließlich
widmet, den Anforderungen und Ansprüchen der Politik und den Imperativen der
Moral gegenüber gleichgültig bleibt und keine andere Schiedsinstanz anerkennt
als die spezifische Norm der Kunst.”25
Während Sartre Flaubert vorwirft, sich scheinbar in
Einsamkeit zurückzuziehen und sich mit einer bloß psychologischen Kritik der
Bourgeoisie zu begnügen, ohne zu versuchen, die Interessen einer anderen Klasse
sich zu eigen zu machen und der Bourgeoisie das Recht zu regieren nicht zu
verweigern und sich nach der Kommune in unwürdigen Beschimpfungen gegen die
Arbeiter zu ergehen26, findet man bei Bourdieu keine politische Bewertung
Flauberts. Flaubert und Baudelaire werden wegen ihres Kampfes für die Autonomie
als solche valorisiert. Bourdieu enthält sich jeder ethischen Empathie mit dem
‘art social’, deren Forderungen ihm vielleicht sympathisch erscheinen mögen,
die aber trotzdem Ausdruck eines heteronomen Prinzips sind. Ein politisches
Engagement rechtfertigt sich nicht schon als solches; es legitimiert sich bloß,
wenn es auf der Basis der Autonomie des eigenen Feldes und im Namen
feldinterner Normen artikuliert wird.
In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts fanden
sich die konstitutiven Züge eines autonomen literarischen Feldes vereint, vor
allem mit der Reaktion des Symbolisten gegen den naturalistischen Roman und die
Parnasse-Lyrik. Im epischen Bereich manifestierte sich diese Tendenz im
idealistischen oder psychologischen Roman, dessen Repräsentanten über ein hohes
kulturelles und soziales Kapital verfügten und die ihre Werke als eine Art
Prosagedichte konzipierten. Im Bereich des Theaters äußerte sich zuletzt eine autonome
Avantgarde mit dem Théâtre libre von Antoine27. Innerhalb jeder Gattung hatte
sich so eine Avantgarde, ein autonomer Sektor ausgebildet. Die Differenzierung
nach den einzelnen Gattungen (mit unterschiedlichem literarischem Stellenwert)
hatte ihre strukturierende Kraft verloren zugunsten des Gegensatzes zwischen
den beiden Polen innerhalb jedes Subfeldes: “dem Pol der reinen Produktion, bei
dem die Produzenten tendenziell nur die weiteren Produzenten (die zugleich
Konkurrenten sind) als Abnehmer haben und wo sich Lyriker, Romanciers und
Theaterleute treffen, die homologe Positionseigenschaften aufweisen [...] auf
der einen Seite; der Pol der den Erwartungen des breiten Publikums
unterworfenen Massenproduktion auf der anderen Seite.”28 Dieser Gegensatz, der
sich über das Publikum definierte (Massenpublikum oder Elitepublikum), beruhte
letztlich auf dem Kriterium des Bruchs (oder des Nicht-Bruchs) mit den
Prinzipien der wirtschaftlichen Ordnung.
Im Augenblick, als das Ende des Naturalismus und die
Herrschaft des psychologischen Romans verkündet wurde, änderte Zola seine
Strategie und schrieb mit Le rêve selber einen psychologischen Roman.
Nach Bourdieu wäre Zola wohl doch nicht dem Misskredit entgangen, dem er sich
aufgrund seiner Verkauferfolge und des darin implizierten Vulgaritätsverdachtes
aussetzte, wäre es ihm nicht gelungen, zumindest teilweise die herrschenden
Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien zu verändern und die Unabhängigkeit und
die besondere Würde des homme de lettres zum eigentlichen Prinzip zu
machen, indem er ein neues Selbstverständnis des Schriftstellers begründete,
das des ‘intellectuel’: “Dazu musste er eine neuartige Gestalt erfinden, die
des Intellektuellen, und zwar indem er für den Künstler einen subversiven
prophetischen Auftrag ersann, der, intellektuell und politisch zugleich, geeignet
ist, als ästhetisch-ethisch-politische Konzeption erscheinen zu lassen, was
seine Gegner als Folge eines vulgären oder abwegigen Geschmacks beschreiben,
und Mitstreiter dafür zu gewinnen.”29
Auf der Basis seines großen symbolischen Kapitals hat
Zola im politischen Feld im Namen nicht-politischer Werte - Wahrheit und Gerechtigkeit
- interveniert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird indes die Autonomie des
literarischen Feldes eingeschränkt werden, nicht so sehr wegen persönlicher als
vielmehr struktureller Abhängigkeiten.
Man kann so bei Sartre
und Bourdieu eine Übereinstimmung hinsichtlich der Periodisierung des Prozesses
der Autonomisierung des literarischen Feldes feststellen. Bourdieu analysierte
ebenfalls die beiden großen Repräsentanten des literarischen Feldes nach dem
oben genannten Einschnitt: Baudelaire und Flaubert. Er begann relativ früh, zu
Sartres Flaubert-Analyse Stellung zu beziehen. Die
Analyse Sartres, so schrieb Bourdieu, “geht in der Tat vom unabschließbaren und
verzweifelten Vorhaben aus, in der Einheit eines ursprünglichen Entwurfes die
genaue objektive Wahrheit einer Bedingung, einer Geschichte und eines
einzigartigen Werkes zu integrieren, im Besonderen alle Charakteristika, die
mit der Klassenzugehörigkeit verbunden sind, die durch die Familienstruktur und
die biographischen Erfahrungen vermittelt und verbunden sind: nach dieser Logik
determiniert nicht die Klassenbedingung das Individuum, es ist das Subjekt, das
sich selber bestimmt, ausgehend von der totalen oder partiellen Bewusstwerdung
der objektiven Wahrheit seiner Klassenbedingung”30. Aus der Perspektive seiner Subjektphilosophie versuche Sartre, den Lebensweg
Flauberts von einem ursprünglichen Ausgangspunkt, einem Gründungsmythos her zu
erklären. Sartre glaubt in der Tat, dass die Jahre der Krise bei Flaubert -
1838-1844 -“potentiell alle Kraftlinien dieser Vorbestimmung”31 enthalten. Die Idee des prophetischen Charakters, der
individuellen Neurose von 1844, die die ‘objektive’ Neurose des Second Empire
angekündigt habe, wird in der Tat die zentrale These des Idiot de la famille
darstellen: “Im Januar 44 hat er definitiv die soziale Umgebung gewählt, die
noch gar nicht existiert und die seine Gesellschaft für einige Jahre werden
wird”.32
Über eine Formulierung
wie: “er hat definitiv die soziale Umgebung gewählt” unterstreicht
Sartre den voluntaristischen Aspekt dieser Haltung. Und Bourdieu wird das in Die
Regeln der Kunst folgendermaßen kommentieren: “Die retrospektive Illusion,
die spätere Ereignisse zum Zweck ursprünglicher Erfahrungen oder
Verhaltensweisen erhebt, und die Ideologie von der Begabung oder
Prädestination, die sich ganz besonders bei den gern prophetischer Fähigkeiten
verdächtigten Ausnahmegestalten aufzudrängen scheint, begünstigen die stillschweigende
Annahme, dass das wie eine Geschichte aufgebaute Leben sich von einem als
Ausgangspunkt, aber zugleich auch als erste Ursache - oder besser: als
generierendes Prinzip - aufgefassten Ursprung her bis zu einem Ende abrollt,
das zugleich ein Ziel ist.”33 Das, was nach Bourdieu
Sartre hinderte, “Flaubert durch die Objektivierung des sozialen Universums zu
objektivieren, das sich in ihm äußerte”34, das war die Tatsache, dass er mit Flaubert, dessen
Selbstbild eines “ungeschaffenen Schöpfers” teilte.
Wenn Bourdieu Sartres
These - “Frédéric in der Erziehung des Herzens, das ist hauptsächliche
Verkörperung Flauberts” - wieder aufgreift, dann nicht, um in ihm eine
individualpsychologische Tendenz Flauberts - eine vermutete Androgynie -
wiederzuerkennen, sondern um Frédéric als alter ego des Schriftstellers
Flaubert zu deuten, der diesen Traum der Un-Bestimmtheit der Position der
‘reinen’ Kunst zwischen den Polen ‘Kunst und Geschäft’ und ‘Geschäft und
Politik’ hegte und pflegte. Aus der Position des Schriftstellers im
literarischen Feld lassen sich nach Bourdieu die Stellungnahmen der
Schriftsteller in ihren Werken erkennen. Pierre Bourdieu postuliert in der Tat
eine Homologie zwischen dem Raum der Werke in ihren Differenzen und dem Raum
der Produzenten und Produktionsinstitutionen.
Gerade in dem 'hors d'oeuvre' des Werkes Les règles
de l'art, in der Analyse der Education sentimentale, findet sich
eine vertiefte Reflexion über den Status der formalen Gestaltung, aber auch
über die kognitive Funktion des Kunstwerkes, die man in früheren Untersuchungen
von Bourdieu nicht getroffen hatte. Der Schriftsteller spreche in seinem Werk
von der Welt im Modus der Freudschen Verneinung wie wenn
er nicht von ihr spräche.35 Die Arbeit an der Form ermögliche eine
partielle Anamnese der verdrängten Tiefenstrukturen. “Muss man sich nicht
fragen, ob auch der Schriftsteller allein, auch wenn er sich noch so sehr auf
die alleinige formale Gestaltung konzentriert, dazu gebracht wird, als Medium
(sozialer und psychologischer) Strukturen zu agieren, die zur Objektivierung
gelangen, durch ihn und seine Arbeit an Leitwörtern.”36. Die Form erscheint als deutbares Indiz von
Tiefenstrukturen. Das Konzept gemahnt auch an die psychoanalytische Vorstellung
des Verhältnisses von Manifestem und Latentem, aber auch an die generative
Grammatik Chomskys und deren Konzept von Oberflächen- und Tiefenstruktur. Die
eigentliche Leistung der literarischen Gestaltung besteht darin, dass
Wirklichkeit modelliert, ein Bild konstruiert wird, das bloß notwendige,
aussagekräftige, nicht kontingente Elemente enthält.
Wenn das literarische
Werk soziale Strukturen zum Sprechen bringt, worin besteht dann dessen
Differenzqualität gegenüber einer wissenschaftlichen soziologischen Analyse,
die demselben Erkenntnisinteresse gehorcht? Die Modalitäten sind nicht identisch.
Das literarische Werk vermag durch seine Singularität, die über sich
hinausweist, einen Tatbestand zu kondensieren, der in der wissenschaftlichen
Analyse diskursiv ausgefaltet werden muss: “Der literarischen Schreibweise ist
es eigen, in der konkreten Einzigartigkeit einer sinnenhaften Figur und eines
individuellen Abenteuers, die gleichzeitig als Metapher und als Metonymie
wirken, die ganze Komplexität einer Struktur und einer Geschichte zu
konzentrieren und zu kondensieren, welche die wissenschaftliche Analyse mühsam
auseinanderfalten und ausbreiten muss.”37
Bourdieu unterstrich in einem anderen Kontext, die Literatur vermöge dank ihrer formalen Ressourcen besser die Komplexität der menschlichen Erfahrung wiederzugeben als die reinen linearen Lebensgeschichten: “Ich habe [...] gesehen, wie künstlich die linearen Lebensgeschichten sind, mit denen sich die Ethnologen und Soziologen oft begnügen, und mir kommen heute die scheinbar rein formalen Versuche von Virginia Woolf, Faulkner, Joyce und Claude Simon viel ‘realistischer’ vor (falls das Wort überhaupt einen Sinn hat), anthropologisch viel richtiger, viel näher an der Wahrheit der Zeiterfahrung als die linearen Erzählungen, an die uns die traditionelle Romanlektüre gewöhnt hat.”38
Prof. Dr. Joseph Jurt, Romanisches Seminar, Universität Freiburg
Homepage
1 Antoine Compagnon,
Le démon de la théorie. Littérature et sens commun. Paris, Seuil, 2001,
p. 8-9.
2 Gérard Genette, Figures. Paris, Seuil, 1966.
3 Siehe dazu vor allem Lucien Goldmann, Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines. Neuwied, Luchterhand, 1973.
4 Jean-Paul Sartre, Situationen. Hamburg, Rowohlt, 1956, S. 154-155.
5 Jean Paul Sartre, Fragen der Methode. Reinbek, Rowohlt, S. 64.
6 Ebenda, S. 66.
7 Ebenda, S. 67.
8 Ebenda, S. 68
9 Ebenda, S. 69.
10 Ebenda, S. 70.
11 Ebenda, S. 72.
12 Ebenda, S. 72.
13 Ebenda, S. 73.
14 Ebenda, S. 73.
15 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1970, S. 123.
16 Ebenda, S. 124.
17 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und ‘Klassen’. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1985, S. 9.
18 Zur Theorie des literarischen Feldes siehe vor allem Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris, Seuil, 1992; deutsch: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1999; dazu Joseph Jurt, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.
19 Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2002, p. 29.
20 In den Augen von Bourdieu bilden sich so zwei unterschiedliche Typen der symbolischen oder ökonomischen Produktion aus, die sich radikal voneinander abgrenzen: “Der Prozess der Autonomisierung und der Reinigung der unterschiedlichen Universen ist bei weitem nicht beendet, auf Seiten der Ökonomie, die den symbolischen Feldern und Effekten noch immer einen beachtlichen Platz einräumt, ebensowenig wie auf Seiten der symbolischen Tätigkeiten, denen noch immer eine verleugnete ökonomische Dimension anhaftet.” (Ibidem, p. 30).
21 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1999, p. 407-408.
22 Pierre
Bourdieu, “Le marché des biens symboliques”, L’année sociologique 22,
1971, p. 49-124; id., “Disposition esthétique et compétence artistique”, Les
Temps modernes, Nr. 295, 1971, p. 1349-1350.
23 Pierre
Bourdieu, “Le champ littéraire. Préalables, critiques et principes de méthode”,
lendemains, Nr. 36, 1984, p. 13 (übersetzt von J.J.); siehe dazu auch id.,
Die Regeln der Kunst, p. 349-350.
24 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, p. 83.
25 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, p. 127.
26 Jean-Paul
Sartre, Qu’est-ce que la littérature?, Paris, Gallimard, 1970, p.
154-155.
27 Die Bildung literarischer Gruppen, die in Frankreich um 1850 mit der Parnasse-Gruppe einsetzt, ist so auch ein Phänomen der Autonomisierung des Feldes. Schriftsteller, die nicht mehr Teil einer transliterarischen Bewegung (wie etwa der Romantik) sind, bilden Gruppen mit dem impliziten strategischen Ziel, die Position der symbolischen Macht zu erreichen, um so die literarische Legitimität innerhalb des literarischen Feldes zu bestimmen. Siehe dazu Joseph Jurt, “Literarische Gruppen zur Zeit des Fin-de-Siècle: Symbolisten und ‘Décadents’”, in: Angelika Corbineau-Hoffmann, Albert Gier (Hrsg.), Aspekte der Literatur des fin-de-siècle in der Romania. Tübingen, Niemeyer, 1983, p. 21-46 sowie id., Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.
28 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, p. 198.
29 Ibidem, p. 210.
30 Pierre
Bourdieu, “Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe”, S. 13
(übersetzt von J.J.).
31 Ebenda, S. 14 (übersetzt von J.J.).
32 Jean-Paul Sartre, L’Idiot de la famille, t. III, S. 447 (übersetzt von J.J.). Sartre kündigt schon in seinem Vorwort die Intention an, den eigentlichen Ursprung von Flauberts Lebensbahn suchen zu wollen. Er verweist auf eine Briefpassage des Schriftstellers an Frau Leroyer de Chantepie: “Nur durch Arbeit gelingt es mir, meine angeborene Melancholie zum Schweigen zu bringen. Aber der alte Kern scheint immer wieder durch, der alte Kern, den niemand kennt, die tiefe, immer verborgene Wunde.” Sartre fragt dann: “Was heißt das? Kann eine Wunde angeboren sein? Auf jeden Fall verweist uns Flaubert auf seine Vorgeschichte. Man muss also herauszufinden versuchen, was der Ursprung dieser ‘immer verborgenen’ Wunde ist, die zwangsläufig auf seine frühere Kindheit zurückgeht.” (Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie. Band I, Reinbek, Rowohlt, 1977, S. 8).
33 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 300.
34 Ebenda, S. 304.
35 Diese Doppelstruktur der
literarischen Erkenntnisweise, die verdeckt, um zu offenbaren, wird auch
andernorts betont. Dem literarischen Diskurs eigne die Fähigkeit “im Akt des
Aufdeckens zugleich zu verdecken”. Guillaume Bridet warf in diesem Kontext
Bourdieu einen unspezifischen Gebrauch der Freudschen Begriffe ‘Verneinung’ und
‘Sublimation’ vor. Derselbe Autor wendet auch ein, dass Bourdieu sich mit der Betonung
des kognitiven Aspektes der Werke von Flaubert, das die versteckten Strukturen
der sozialen Welt aufdecke, auf der Linie der Widerspiegelungsparadigmen
befinde. Dass dem Roman Flauberts auch kognitive Eigenschaften eignen, geht
nicht einher mit der Behauptung einer universellen kognitiven Dimension der
Literatur. Von der Logik des Feldes her erklären sich die Strukturen
literarischer Werke vor allem aus der Position der Akteure im Feld, die sich
gegen andere literarische Dimensionen abgrenzen. (Guillaume Bridet, “De quelques dérègelements dans
Les règles de l'art, Les Temps Modernes, Nr. 618, März-April-Mai
2002, S. 111-137).
36 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 20.
37 Ebenda, S. 18 (leicht korrigierte Übersetzung).
38 Pierre
Bourdieu, Loïc Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 243.