2. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 24.06.2005

Tilmann Köppe

Korreferat zu Fotis Jannidis: Analytische Hermeneutik

 

Nachstehend unterscheide ich vier Aspekte der von Fotis Jannidis vorgetragenen Theorie "narrativer Kommunikation",[1] die zur Kritik herausfordern können. – Das heißt nicht, dass ich alle Bestandteile der Theorie in Hinblick auf alle diese Aspekte tatsächlich für kritik- bzw. verbesserungswürdig halte; vielmehr möchte ich aufzeigen, in welcher Weise man hier überhaupt kritisch nachfragen kann. Folgende Aspekte der Theorie lassen sich unterscheiden:   

 

A. Empirische Aspekte

Die Theorie beinhaltet verschiedene Beschreibungen zunächst der alltagssprachlichen und dann auch der literarischen (narrativen) Kommunikation; diese Beschreibungen können als empirische richtig oder falsch sein – d.h. es kann sein, dass Kommunikation tatsächlich so abläuft, wie in diesen Beschreibungen gesagt wird, oder eben nicht. Man würde an dieser Stelle also nachfragen: Sind die in die Theorie eingegangenen empirischen Beschreibungen korrekt?

 

B. Begriffliche Aspekte

Außerdem kann man fragen, ob die in der Theorie vorkommenden Beschreibungskategorien sinnvoll sind. Man kann hier im einzelnen eine Reihe miteinander verwandter Fragen unterscheiden:

(i)                  Gibt es Aspekte des Phänomens "narrative Kommunikation", die vom vorgeschlagenen Kategorienrepertoire nicht erfasst werden? (Diese Frage betrifft, was man die Differenziertheit des Kategorienschemas nennen kann.)

(ii)                Sind die vorgeschlagenen Kategorien hinreichend klar expliziert?

(iii)               Sind die Explikationen der vorgeschlagenen Kategorien konsistent?

(iv)              Ist das vorgeschlagene Kategorienschema anderen möglichen Schemata in Hinblick auf seine strukturelle 'Einfachheit' und seine 'Handhabbarkeit' in Erklärungen gleichwertig oder (nach Möglichkeit) sogar überlegen?

 

C. Normative Aspekte

Neben diesen die Beschreibungskategorien betreffenden Fragen gibt es eine Reihe von Fragen, die man als normative bezeichnen kann: Narrative Kommunikation kann offenbar mehr oder weniger gut gelingen, d.h. es gibt Kriterien (Normen), anhand derer man unterscheiden kann, ob eine narrative Kommunikation erfolgreich vollzogen wurde oder nicht. In "Narrative Kommunikation" ist, um ein paar Beispiele zu geben, die Rede davon, dass narrative Texte eine Fülle von Informationen enthalten, unter denen man bestimmte Informationen auswählen muss (vgl. S. 17f.). Eine solche Auswahl ist etwas, das man tut, eine Handlung also, die man so oder anders ausführen kann, und daher stellt sich hier die Frage: Nach welchen Kriterien findet die Auswahl statt? (Oder anders gefragt: Welchen Regeln müssen wir folgen, um eine erfolgreiche Wahl zu treffen?) An anderen Stellen (vgl. S. 31, 35, 79f.) ist vom "adäquaten" Verständnis eines Textes die Rede, oder von "vom Text erforderten Operationen [des Verstehens]" (meine Hervorh.), die man zudem auch "erfolgreich" oder, so kann man ergänzen, nicht erfolgreich durchführen könne. Stellen wie diese legen folgende Fragen nahe: Was genau sind die Normen, deren Befolgung eine gelingende "narrative Kommunikation" (d.h. ein angemessenes Textverstehen/eine gelungene Bedeutungsrekonstruktion) verbürgt? Und weiterhin: Sind die vorgeschlagenen Normen plausibel? Gibt es Gründe für die Geltung dieser Normen (und gegen die Geltung etwaiger Konkurrenten)? Und: Sind die Normen als handlungsleitende tauglich, d.h. können wir uns anhand ihrer für oder gegen bestimmte Handlungen entscheiden?[2]

 

D. Sonstige Aspekte

Eine dritte Gruppe möglicher Kritikpunkte bildet eine Art Sammelklasse, aus der hier nur die wichtigsten Elemente genannt werden sollen:

(i)                  Ist das Modell narrative Kommunikation flexibel, d.h. kann es beispielsweise zukünftigen Entwicklungen auf der Ebene der Gegenstände (also narrativer Texte) angepasst werden?

(ii)                Ist das Modell auf ad-hoc-Annahmen angewiesen, d.h. muss man, um bestimmte Elemente des Modells akzeptieren zu können, weitere (und unbegründete) Annahmen akzeptieren?

(iii)               Verträgt sich das Modell mit anderen (etablierten) Theorien?

 



[1] In: Ders.: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004, Kap. 2. Durch bloße Seitenangabe nachgewiesene Zitate im Text entstammen dieser Ausgabe.

[2] Zur Unterscheidung von Normen, die als handlungsleitende tauglich sind, und sonstigen Beschreibungen (erfolgreichen) menschlichen Verhaltens (denen die handlungsleitende Funktion jedoch abgeht), vgl. Robert Nozick: The Nature of Rationality. Princeton 1993, S. 76f.