9. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie:
Das Interpretationsproblem in Nachbardisziplinen 1: Sprachphilosophie, 15. Dezember 2006

Carlos Spoerhase

Replik auf Jasper Liptows Thesenpapier

 

In seinem konzisen Thesenpapier entfaltet Jasper Liptow drei Dimensionen eines philosophischen Interpretationsbegriffs (eine umfassendere Darstellung seiner Bedeutungstheorie findet sich in Liptow 2004; alle nicht eigens ausgewiesenen Zitate beziehen sich auf Liptow 2006). Interpretation kann aufgefasst werden (1) als radikale Interpretation im Sinne des Erstellens und Überprüfens einer Theorie über die Bedeutung der Ausdrücke einer vollkommen unbekannten Sprache; (2) als Interpretation einzelner unbekannter Ausdrücke im Sinne des Erstellens und Überprüfens von Hypothesen über die Bedeutung der unbekannter Ausdrücke einer uns im Großen und Ganzen bekannten Sprache, und (3) als Interpretation kontextbezogener Aspekte sprachlicher Signifikanz im Sinne des von buchstäblichen Satzbedeutungen ausgehenden Ziehens von Schlüssen, das uns das mit den Sätzen jeweils geäußerte erschließt - auch dies dann innerhalb einer uns im Großen und Ganzen bekannten Sprache. Die Frage, die im Anschluss an diese Darstellung aufgeworfen wird, ist nun, wie sich diese Dimensionen des Interpretierens zu einander verhalten. Ist Interpretation in erster Linie "ein durch Folgerungsprozesse und Hypothesen- und Theoriebildung vermitteltes Verstehen", wie wir es in Situationen radikaler Interpretation vorfinden? Oder ist Interpretation ein "unmittelbares Verstehen", wie es "bei dem Verstehen der buchstäblichen Bedeutung bekannter Ausdrücke der eigenen Muttersprache" vorliegt? Die zuletzt genannte Auffassung wird als "Standardauffassung" präsentiert - ein Vertreter dieser Standardauffassung wird hier nicht genannt (vielleicht darf man sich als dialektischen Gegner Lewis 1983, Kap. 11 oder Bennett 1976 vorstellen).

 

Die beiden genannten Optionen einer Explikation des Interpretationsbegriffs werden im folgenden im Sinne der Unterscheidung von "Idiolekt" und "Soziolekt" reformuliert. Die Standardauffassung, die Interpretation als ein "unmittelbares Verstehen" im Sinne des Verstehens der eigenen Muttersprache expliziert, orientiere sich an der Vorstellung einer von Interpret und Gegenüber geteilten Sprache: "Das Verstehen anderer ist abgeleitet vom Verstehen einer gemeinsamen Sprache, eines Soziolekts". Die Gegenposition, die Interpretation als radikale Interpretation konzipiert, wendet dagegen ein, dass "Soziolekte" in der wirklichen Welt ("in the real world") gar nicht existieren: "Homogene Sprachgemeinschaften - und ihren Mitgliedern gemeinsame Sprachen - sind eine Idealisierung [...]." Tatsächlich existierten in der Welt angeblich nur heterogene Idiolekte: "Was tatsächlich existiert, sind mehr oder weniger ähnliche Idiolekte." Darüber hinaus gebe es genau so viele Idiolekte wie Sprecher; jeder Spracher pflege seinen eigenen: "Jeder von uns hat einen anderen Wortschatz und verwendet darüber hinaus viele Wörter auf eine Weise, die zumindest partiell abweicht von der Art und Weise, in der andere diese Wörter verwenden." Nur die Konzeption der radikalen Interpretation möge verständlich zu machen, wie Verständigung zwischen Subjekten möglich sein soll, die aufgrund des idiolektalen Charakters ihrer Sprachpraxis keine gemeinsame Sprache teilen.

 

Jasper Liptows Begriff von "Verständigung" wird am Ende seines Thesenpapiers pointiert formuliert: "Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person". Liptow konstruiert damit im Anschluss an Davidson einen Begriff des Verstehens, der ausgehend von der Konstruktion einer radikal voraussetzungslosen Interpretation die radikale Situativität einzelner Verständigungsakte hervorhebt. Wie voraussetzungslos und wie situativ kann aber Verstehen sein? Im folgenden Abschnitt (1) möchte ich mich darauf beschränken, diese Konzeption aus drei Gründen zu kritisieren: Erstens, weil die radikale Interpretation voraussetzungsreicher ist, als auf den ersten Blick ersichtlich ist; zweitens, weil das kommunikative Interaktionsmodell der radikalen Interpretation unplausibel ist; drittens, weil die These einer radikalen Situativität des Verstehens in einem problematischen Verhältnis zum hermeneutischen Projekt einer Interpretationsmethodologie steht. Im Anschluss an diese Kritikpunkte möchte ich im Folgeabschnitt (2) Liptows Konzeption des "Idiolekts" auf ihre Plausibilität überprüfen, um in einem darauf aubauenden Abschnitt (3) die Frage aufzuwerfen, was genau die These besagt, dass jedes Verstehen bereits ein umfassendes Verständnis voraussetze.

 

1. Über die radikale Interpretation

Es ist sicherlich richtig, dass Davidson der Auffassung ist, dass eine gemeinsame Sprache keine Voraussetzung von Verständigung ist; so ist Davidson der Ansicht, dass Verständigung nicht voraussetzt, dass der Interpret und sein Gegenüber eine gemeinsame sprachliche Praxis teilen müssen: "there is no fundamental reason why practices must be shared" (Davidson 1994, S. 125). Gleichwohl ist ihre die Auffassung, dass sie mit ihren Theorien der radikalen Interpretation von einem hermeneutischen Nullpunkt ausgehen, nicht richtig.

 

Davidson bemüht sich in seinem Projekt einer "radikalen Interpretation" darum herauszuarbeiten, wie gegenseitige Verständigung ausgehend von einem hermeneutischen Nullpunkt erzielt werden kann: man müsse mit einer "tabula rasa" anfangen (Davidson 2005, Kap. 12). Es soll nachvollziehbar gemacht werden, wie der Interpret ausgehend von einem Nullpunkt - der nicht anderes ist, als die Abwesenheit einer gemeinsam geteilten Sprache - Verstehen erzielen kann. Davidson besteht darauf, dass Kommunikation zwischen einem Interpreten und seinem Gegenüber in keiner Weise voraussetze, dass beide Partner eine gemeinsame Sprache teilen (Davidson 1984, Kap. 17, 18; Davidson 2005, Kap. 7, 8). Wie steht es also um die Konzeption eines degré zero de l'interprétation?

 

Voraussetzung einer gelungenen hermeneutischen Praxis ist für Davidson zwar nicht, dass der Interpret und sein Gegenüber die gleiche Sprache sprechen (dieses schwere Gepäck ist abgeworfen); aber: sie müssen einen ganze Wagenladung anderer Voraussetzungen teilen. Darunter: Sie müssen eine ähnliche Weltwahrnehmung teilen (d. h. einen ähnlichen Wahrnehmungsapparat und ein ähnliches Wahrnehmungsverhalten im Rahmen einer günstigen Wahrnehmungssituation teilen); sie müssen ein ähnliches Reaktionsverhalten im Hinblick auf ihre Wahrnehmungen teilen; sie müssen die gleiche ‚Logik' teilen; sie müssen im Hinblick auf die Welt gleiche (nämlich im Großen und Ganzen zutreffende) Überzeugungen teilen; sie müssen ihre Gedanken (Überzeugungen, Wünsche, Absichten, usw.) auf eine ähnliche (nämlich im Großen und Ganzen rationale) Weise verknüpfen; und sie müssen sich eines bestimmten ‚Werkzeugkastens' an hermeneutischen Strategien bedienen, die ihre Hypothesenbildung und Hypothesenbewertung anleiten (Davidson 1984, Kap. 9, 10, 11).

 

Selbst wenn die Interpretationstheorie Davidsons insgesamt plausibel wäre - die Vorstellung eines hermeneutischen Nullpunkts ist damit desavouiert. Weit davon entfernt, das Versprechen einer radikalen Interpretation zu erfüllen, liefert auch Davidsons Interpretationstheorie den Nachweis dafür, dass eine wirklich radikale Interpretation nicht stattfindet. Davidsons Methodologie der Interpretation unterscheidet sich von konkurrierenden Projekten nicht darin, dass sie nichts voraussetzte (und in diesem Sinne "radikal" wäre), sondern darin, dass sie anderes voraussetzt. Interpretationstheorien unterscheiden sich also nicht darin, ob im Interpretationsvorgang etwas vorausgesetzt werden muss, sondern darin, was vorauszusetzen ist. Verschiedene Alternativen eines hermeneutischen Ausgangspunkts des Interpretationsvorgangs sind hier neben einer gemeinsam geteilten Sprache denkbar, darunter eine minimale hermeneutische Anthropologie (Hanjo Glock), eine minimale hermeneutische Common sense-Psychologie (Alvin Goldman), ein minimaler hermeneutischer ‚Gesellschaftsvertrag' (H. Paul Grice), eine minimale philosophische Theorie der Person (David Lewis) oder eine minimale gemeinsam geteilte Welt (Dan Sperber und Deirdre Wilson).

 

Der zweite Einwand betrifft die mangelnde Praxis-Dimension diverser Modelle der radikalen Interpretation, die sich grundsätzlich als Beobachtungsmodelle rekonstruieren lassen. Das Beobachtungsmodell der radikalen Interpretation liefere aber eine falsche Beschreibung von Kommunikation und Spracherwerb (Wellmer 2004). Quine und Davidson stellen den Übersetzungsvorgang als eine experimentelle Anordnung dar, in der ein Feldforscher als Beobachter in der Rolle eines Experimentators agiert, und nicht als eine Konversation, in der ein Feldforscher mit den Fremden kommunikativ interagiert.

 

Die Vertreter des Kooperationsmodells argumentieren dafür, dass die radikale Übersetzung ein kooperatives Verhalten im Hinblick auf ein gemeinsam geteiltes Handlungsziel voraussetzt (hier wäre beispielsweise an das Gricesche Kooperationsprinzip zu erinnern). Der Interpret muss voraussetzen können, dass der fremde Sprecher erstens das Handlungsziel des Interpreten, nämlich Verständigung herzustellen, teilt, und dass er zweitens seine eigenen Handlungen derart ausrichtet, dass das Erreichen dieses Zieles ermöglicht wird. Die von Quine immer wieder vorausgesetzten Annahmen - darunter etwa, dass der fremde Sprecher wahrhaftige, ernsthafte, gelungene Aussagen formuliert und sich diese Aussagen auf einen derart offensichtlichen bzw. derart theoriearmen Sachzusammenhang beziehen, dass wahrscheinlich ist, dass der Übersetzer mit seinem ähnlichen Wahrnehmungsapparat und Wahrnehmungsverhalten diesen Sachzusammenhang auch ähnlich wahrnimmt - setzen implizit voraus, dass sich der fremde Sprecher erfolgreich an denselben Handlungszielen orientiert wie der Interpret. Diese Anforderungen kann der Fremde aber nur erfüllen, wenn auch er den Feldforscher versteht. Das Kooperationsmodell macht damit geltend, dass ein mehr oder weniger erfolgreicher Interpretationsvorgang nicht nur von einer Seite aus betrieben werden kann, sondern dass beide Parteien aktiv in diesen Vorgang einbezogen sein müssen (Glock 1996).

 

Ein ähnliches Problem sehe ich auch in der Darstellung Liptows, dessen Aufmerksamkeit immer einem Rezipienten gilt, der sich um ein angemessenes Verständnis bemühen muss: "Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen." Könnte man nicht ebenso gut sagen: Sprachliche Verständigung dient primär dazu, sich anderen verständlich zu machen? Warum werden alle Verpflichtungen auf der Seite des Rezipienten lokalisiert: "Wenn jemand ein Wort anders verwendet als es im Duden steht, dann hilft mir ein am Duden orientiertes Verständnis seiner Äußerung in folgenden Hinsichten nicht weiter: Es führt nicht dazu, ihm die Überzeugungen und andere mentale Zustände zuzuschreiben, die er tatsächlich hat, es hilft nicht, seine Handlungen angemessen zu erklären oder sein Verhalten vorherzusagen." Kann man nicht mit gleichem Recht sagen: Wenn jemand ein Wort in einer vom Standardsprachgebrauch deutlich abweichenden Weise gebraucht (und dies dem Rezipienten nicht signalisiert und auch keine Interpretationsmittel mitliefert, die dem Rezipienten erlauben, das Gemeinte zu erschließen), dann ist es das Problem des Sprechers? Muss dann nicht der Sprecher auf Nachfrage ("Was meinst du damit?") die Abweichung markieren und die Interpretationsmittel liefern, die dem Rezipienten erlauben, das Gemeinte doch noch zu erschließen? Um es zu pointieren: Ist in unsere Sprachpraxis nicht eingebaut, was man einen Chauvinismus des Soziolekts nennen könnte? Ist es in der Regel nicht an erster Stelle die Aufgabe desjenigen, der vom Soziolekt stark abweicht, Hinweise auf das Vorliegen der Abweichung und auf die mit der Abweichung angezielte Bedeutung zu geben? Müssen wir als Rezipienten nicht vom Sprachproduzenten immer ein Mindestmaß an Koopertation erwarten, um ihn verstehen zu können?

 

Der dritte Einwand bezieht sich auf die Methodologietauglichkeit der diskutierten Postionen. Quine und Davidson formulieren unterschiedliche hermeneutische Strategien, die den Interpretationsvorgang anleiten sollen. In methodologischer Perspektive stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Interpretationsalternativen hierarchisiert werden sollen, wenn diese Kriterien keine empirischen mehr sein können. Unter dem Imperativ der Beliebigkeitsvermeidung, also unter dem Imperativ einer Begründung der Wahl einer Interpretationsalternative, stellt sich die Frage nach legitimierbaren Strategien der Präferenzbildung. Quine hat für den Fall, dass bei der Theoriewahl die empirischen Daten alleine keine Präferenzbildung für eine der Wahlalternativen erlauben (das ist der Regelfall), Maximen vorgesehen, die für die Präferenzbildung herangezogen werden sollen. Keineswegs sind die Maximen der Einfachheit und des Konservatismus die einzigen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Daneben lassen sich weitere Maximen stellen, die als Heuristiken der Hypothesenbildung charakterisiert werden. Diese nunmehr als "Tugenden der Hypothesenbildung" titulierten Maximen sind neben den bereits genannten, die Tugenden der Voraussetzungsarmut, der Allgemeinheit und der Widerlegbarkeit (Quine und Ullian 1978). Aber wie werden diese Interpretationsmaximen im Einzelfall eingesetzt?

 

Lässt sich über die Verwendung dieser Maximen etwas hilfreiches sagen, wenn die Interpretation fremder Rede letztlich immer wieder auf's Neue eine situative "Stegreifinterpretation" ist (Davidson 1984, Kap. 13)? Hier liegt die Vermutung Nahe, dass der Stegreifcharakter des Interpretierens für sich genommen der Möglichkeit einer Interpretationsmethodologie entgegenspricht. Die Vermutung, Davidson gebe sein Projekt einer detaillierten Methodologie der Interpretation letztlich auf, kann dann auch nicht von der Hand gewiesen werden. Als Hinweise, die in diese Richtung deuten, lassen sich auch seine Bemerkungen verstehen, er sehe keine Chance, den Prozess der Interpretation, also den Prozess des Entwicklung und Bewertung von Interpretationshypothesen, zu regularisieren oder zu lehren. Die von Davidson anfangs gesuchte Methode der Interpretation wird ersetzt durch Hinweise auf die notwendigen Kompetenzen des Interpreten wie "Verstand, Glück, Weisheit", "Intuition, Glück, Könnerschaft", "Geschmack und Sympathie" (Davidson 1984, Kap. 18, Davidson 2005, Kap. 7).

 

Mit der Absage an eine Interpretationsmethode ist hier also nicht der Einwand von Lewis gemeint, Davidsons holistische Interpretationstheorie verfahre schon deshalb nicht methodisch, weil das Interpretationsproblem nicht in systematisierten Einzelschritten, sondern gewissermaßen in einem großen Wurf gelöst werde. Die hier angesprochene Absage an den Methodencharakter lässt sich vielmehr vor dem Hintergrund der Auffassung rekonstruieren, dass es jeder Methodologie immer auch um die Widerlegung des "Esoterikers" gehe. Wenn die Interpretationsmethodologie nichts anderes ist als eine im Spiegel der Bedeutung betrachtete Erkenntnistheorie (Davidson 1984, Kap. 11) wäre auch der Interpretationsmethodologie die Aufgabe beschieden, analog zur skeptischen Herausforderung die esoterische Herausforderung anzunehmen. Während der Skeptiker bestreitet, dass es so etwas wie hermeneutisches Wissen gibt, bestreitet der Esoteriker, dass es eine Methode geben kann, mit der man dieses hermeneutische Wissen mehr oder weniger planvoll erreichen kann und verweist auf Fakultäten bzw. Eigenschaften wie die Urteilskraft, den gesunden Menschenverstand, Intuition, Talent oder die praktische Erfahrung. Davidsons Rückzug auf hermeneutische Kompetenzen wie Intuition, Könnerschaft und Geschmack ist von der Position des erkenntnistheoretischen Esoterikers nur noch schwer zu unterscheiden. Die Auskunft, dass ein guter Interpret verdammt intelligent sein und sich verdammt gut in der Welt auskennen muss ist jedenfalls für diejenigen, die an einer Interpretationsmethode interessiert sind, nicht sonderlich informativ.

 

2. Über den idiolektalen Charakter der Verständigung

Was bedeutet es, dass "Soziolekte" in der wirklichen Welt ("in the real world") nicht existieren? Es ist sicherlich richtig, dass "Soziolekte" in der wirklichen Welt nicht existieren, wenn der Soziolekt im Sinne einer totalen Homogenität des Sprachgebrauchs verschiedener Sprecher bestimmt wird. Weshalb aber soll der Soziolekt als eine restlose Übereinstimmung des Sprachgebrauchs bestimmt werden? Die Lektüre des Thesenpapiers verleitet immer wieder zu dem Eindruck, dass mit einer Dichotomie von Soziolekt als totaler Homogenität und Idiolekt als relativer Heterogenität gearbeitet wird. Wenn verschiedenen Sprechern eine gemeinsame Sprache zugeschrieben werden soll, so muss die Homogenität der Sprachverwendung dieser Sprecher total sein; ist sie es nicht, haben die unterschiedlichen Sprecher keine gemeinsame Sprache. Der hier in Anschlag gebrachte Begriff des Soziolekts ist nicht gradationsfähig: der Soziolekt kann nicht mehr oder weniger homogen sein, entweder er ist vollkommen homogen oder wir haben es gar nicht mit einem Soziolekt zu tun. Der Begriff des Idiolekts lässt dagegen anscheinend alle Gradation von Heterogenität zu: ein Idiolekt muss nicht vollkommen heterogen sein, um seinen Namen zu verdienen, es reicht, wenn er mal mehr und mal weniger heterogen ist. Warum aber kann man nicht auch mit einem gradationsfähigen Begriff des Soziolekts arbeiten, der mal einen höheren und mal einen niedrigeren Homogenitätsgrad zulässt? Warum darf nicht auch das Vorliegen eines Soziolekts als eine relative Angelegenheit beschrieben werden? Man gewinnt im Hinblick auf die Konstruktion der beiden Begriffe "Idiolekt" und "Soziolekt" den Eindruck, dass eine unplausible Asymmetrie vorliegt.

 

Neben dem Problem der begrifflichen Asymmetrie stellt sich noch das der empirischen Adäquatheit. Die analytische Differenzierung zwischen "Idiolekt" und "Soziolekt" darf jenfalls nicht unverändert auf die sprachliche Realität übertragen werden; so als gäbe es entweder Soziolekte (alle teilen bis ins letzte Detail eine gemeinsame Sprache) oder Idiolekte (jeder hat seine ganz eigene Sprache). In der Realität ("in the real world") weisen die ‚Sprachen' unterschiedlicher Sprecher relative Homogenitäten bzw. Heterogenitäten auf. Wie sehr trifft die Auffassung, "dass das sprachliche Verhalten von Sprecherinnen und Sprechern eine individuelle Gestalt hat" tatsächlich empirisch zu, wenn mit "Individualität" mehr gemeint sagen soll, als minimale, im Alltag oft kaum merkliche, Devianzen der Sprachpraxis. Sind Idiolekte (z. B. schichtspezifische oder geographisch bedingte Abweichungen) nicht immer Idiolekte in einer geteilten Sprache. Oder in den Worten von James Higginbotham: "Diversity in speech [...] has its place within community" (Higginbotham 2006).

 

Liptow setzt sich im Rahmen seiner Überlegungen zum "Idiolekt" weiterhin mit zwei Argumenten auseinander, die Michael Dummetts gegen Davidsons Theorie der radikalen Interpretation vorgebracht hat, und verteidigt in diesem Zuge Davidsons Position: Das erste Argument gegen Dummett scheint mir allerdings nur dann plausibel zu sein, wenn man bereits von Standpunkt einer Davidsonsche Interpretationtheorie argumentiert, die keinen Verstehensbegriff jenseits gelingender Verständigung (in den Augen der an der Verständigung Beteiligten) bereit hält: "Denn wenn sich zwei Sprecherinnen in derselben Weise über die wirkliche Bedeutung der Wörter irren, verstehen sie einander so gut, wie man sich nur verstehen kann." Verstehen wird unter dieser Voraussetzung als sozialer Koordinationserfolg expliziert. Liptow fragt: "[...] wo liegt überhaupt der Fehler, wenn die Verständigung so gut gelingt, wie sie nur gelingen kann?" Ein Fehler kann hier in der Tat überhaupt nur dann vorliegen, wenn korrekte Sprachverwendung noch etwas anders ist, als der bloße soziale Koordinationserfolg. Es kann ja sein, dass sich Donald und Michael zum Jahreswechsel in "Paris" verabreden, um sich dann zum genannten Zeitpunkt im Zentrum der englischen Hauptstadt hochzufrieden zu begrüßen; der Verständigungsakt ist gelungen; die Verwendung des Ausdrucks "Paris" war (trotzdem) falsch. Und sagen wir normalerweise nicht solche Sachen wie: "Ja, ja, ich habe dich schon verstanden, trotzdem hast du dich missverständlich ausdrückt, du verwendest dieses und jenes Wort falsch usw."

 

Dass der Sprachgebrauch von "Kindern" oder "Personen, deren erste Fremdsprache nicht "die deutsche Sprache" ist" - interessant, dass hier doch wieder auf einen Soziolekt, wenn auch in Anführungszeichen, rekurriert wird: wenn es nur Idiolekte gibt, gibt es dann überhaupt eine "deutsche Sprache"? exisitiert die "deutsche Sprache" "in the real world"? - eine "relative Fremdheit" aufweist, liegt in dieser Perspektive dann nicht an der "Individualität" des Sprachgebrauchs, sondern daran, dass sie den Soziolekt noch nicht erlernt haben. Der Soziolekt ist nicht (allein) das Faktum einer tatsächlich vollkommen homogenen Sprachpraxis; er hat (auch) normativen Charakter - was man an der alltäglichen Praxis der Sanktionierung von Normüberschreitungen sehen kann. Allein durch die Verwendung einer Sprache legt man sich schon auf intersubjektive Normen fest.

 

Das zweite Argument gegen Dummett habe ich vermutlich nicht verstanden. Ist Dummett tatsächlich der Auffassung, dass das Gegenüber, dessen Rede interpretiert wird, eine "formulierte" (so Liptow) Theorie über die Bedeutung der Ausdrücke im Soziolekt vorweisen kann? Das Subjekt, dessen Rede interpretiert wird, hat nur eine bestimmte Menge von Überzeugungen, was die Ausdrücke eines bestimmten Soziolekts bedeuten, wobei diese Überzeugungen in der Regel nicht "reflexiv eingeholt", d. h. als Überzeugungen, was die Ausdrücke einer bestimmten Soziolekts bedeuten, "thematisiert" werden. Die Thematisierung wird in der Regel von dem Interpreten vorgenommen, der dem Subjekt einen Idiolekt - als Menge falscher Überzeugungen, was die Ausdrücke eines bestimmten Soziolekts bedeuten - zuschreibt, um eine Erklärungsleistung zu erzielen, nämlich, wie Liptow ganz richtig sieht, die "Verbindung zwischen dem Verstehen der Bedeutung der geäußerten Worte im Soziolekt und den Überzeugungen und Handlungen einzelner Sprecher" zu erklären.

 

Hier müsste man sich über den methdologischen Ort der Konzeption des "Idiolekts" unterhalten. Quine und Davidson gehen davon aus, dass es unter Gesichtpunkten der hermeneutischen Billigkeit geboten ist, einem Gegenüber eher eine absonderliche und seltsame Sprachverwendung, eine idiosynkratische bzw. idiolektale Verwendungsweise eines Wortes zu unterstellen als ihm eine absurde Überzeugung hinsichtlich bestimmter Sachverhalte in der Welt zu unterstellen. Sie scheinen es für ein Gebot des principle of charity zu halten, Absurditäten von der Ebene der Überzeugungen hinsichtlich der Welt auf die Ebene der Überzeugungen hinsichtlich der Sprache zu verschieben: durch diese Verschiebung werde die Absurdität des Gegenübers gemildert. Wie plausibel kann es aber sein, die anderen zugeschriebene Theorie der Welt vor Absurdität zu bewahren, wenn man den Preis dafür zahlt, dass man eine Theorie ihrer Sprache konstruieren muss, die ihnen eine idiosynkratische Sprachverwendung zuschreibt? Da alle absurden Überzeugungen immer auf abweichende Rede zurückgeführt werden können, ist der Idiolekt gewissermaßen ein Auffangbecken, das alle anderswo auftretende Absurdität ‚entsorgt'. Die von Quine und Davidson aus grundsätzlichen Überlegungen bevorzugte hermeneutische Option, dem Gegenüber Formen abweichender Rede zuzuschreiben, um die Zuschreibung von ‚Dummheit' zu vermeiden, führt dort, wo ihre Anwendung bei der muttersprachlichen Interpretation generalisiert wird, zur Konzeption des Idiolekts. Der "Idiolekt" ist aus dieser Perspektive nicht eine Theorie, die ein Subjekt hinsichtlich seines eigenen Sprachgebrauchs formuliert, sondern eine Theorie, die ein Interpret hinsichtlich der Sprachverwendung eines anderen Subjekts entwirft, um eine Erklärungsleistung zu erzielen.

 

3. Über weiteres Voraussetzungen des Verstehens

Zum Schluß noch etwas über Nilpferde, die in Kühlschränken wohnen. Ein schönes Beispiel, dass Davidson für seine Interpretationstheorie vorlegt, ist folgendes: "Nehmen wir an, jemand sagt (und nun handelt es sich um direkte Rede): "Im Kühlschrank ist ein Nilpferd." Ist es unbedingt zutreffend, wenn ich berichte, er habe gesagt, im Kühlschrank sei ein Nilpferd? Vielleicht ja - doch wenn er gefragt wird, fährt er fort: "Es ist rund, seine Haut ist genoppt, Anfassen macht ihm nichts. Es schmeckt angenehm, jedenfalls sein Saft, und es kostest fünf Groschen. Zum Frühstück presse ich zwei oder drei aus." Nach einer endlichen Zahl derartiger Aussagen gleiten wir über die Grenze, bis zu der es noch plausibel oder auch nur möglich ist, zu Recht zu behaupten, er habe gesagt, im Kühlschrank sei ein Nilpferd, denn es wird klar, daß er mit wenigstens einigen seiner Wörter etwas anderes meint als ich. Die bisher einfachste Hypothese besagt, daß mein Wort "Nilpferd" nicht mehr zur Übersetzung seines Wortes "Nilpferd" taugt; mein Wort "Apfelsine" könnte eher passen" (Davidson 1968, 151). Die Frage, was es denn sei, worauf sich sein Gegenüber mit "Nilpferd" beziehe, wird von Davidson mittels des principle of charity geklärt. Davidsons principle of charity lässt sich hier als Maxime der numerischen Maximierung der Anzahl wahrer Aussagen eines Aussagenkorpus bestimmen. Ganz in dem zu Beginn präzisierten Sinne wird der Interpret dann auch sagen wollen, dass sich der Freund des frühmorgendlichen Orangensaftes eines Idiolekts bedient; eines Idiolektes, in dem er sich mit dem Ausdruck "Nilpferd" auf Apfelsinen bezieht.

 

Hier mag man aber fragen: Wenn nicht vorausgesetzt werden kann, dass der Sprecher mit "Nilpferd" tatsächlich ein Nilpferd meint, wieso soll dann vorausgesetzt werden können, dass der Sprecher mit "Haut" wirklich Haut, mit "Anfassen" wirklich Anfassen, mit "Saft" wirklich Saft, mit "Groschen" wirklich Groschen, oder mit "Frühstück" wirklich Frühstück meint? Wenn der Sprecher dort, wo er "Nilpferd" sagt, eine Apfelsine meint, weshalb sollte er dann beispielsweise nicht auch dort, wo er "Anfassen" sagt, "Füttern" meinen, oder dort, wo er "Saft" sagt, eigentlich "Fleisch" meinen? Wenn also hochproblematisch ist, ob mit dem von dem Sprecher geäußerten Wort "Nilpferd" wirklich ein Nilpferd gemeint ist, wenn also das Wort "Nilpferd" auch jeden beliebigen anderen Gegenstand bezeichnen könnte, wieso soll dann dieser Befund nicht auch für die von Davidson beschriebenen (und in der Tat für ausnahmslos alle denkbaren) folgenden Präzisierungsbemühungen gelten?

 

Liptow stellt sich dazu wie folgt: "Aber nicht alle meine Verständnisse können falsch sein. Verstehen kann nicht durchweg radikale Interpretation beinhalten. Dieser Tatsache können wir dadurch Rechnung tragen, dass wir unser Verstehen anderer zwar als etwas auffassen, das prinzipiell im Sinne von Hypothesen verstanden werden kann, die der Rechtfertigung bedürfen, dass wir die Belege für unsere Hypothesen aber als etwas auffassen, das seinerseits nur jemandem zugänglich ist, der die fraglichen Sprecherinnen und Sprecher bereits immer schon vielfältig verstanden hat. Ein bestimmter Akt des Verstehens stützt sich auf einen Hintergrund von gelungenen Verständnissen. Jedes einzelne dieser Verständnisse kann seinerseits wieder in Frage gestellt werden, aber ein solches In-Frage-Stellen macht seinerseits wieder nur vor einem Hintergrund gelungener Verständnisse Sinn."

 

Die "Tatsache", dass wir immer voraussetzen müssen, dass wir den anderen im Großen und Ganzen bereits verstanden haben, dass man nur "in jedem einzelnen Fall falsch liegen" kann, kann nun auf mindestens zwei unterschiedliche Weisen verstanden werden:

 

1. In einem schwachen transzendentalen Sinne: aus rein methodologischen Gründen müssen wir bei jedem Verständnis immer voraussetzen, dass wir den anderen im Großen und Ganzen bereits verstanden haben; die empirische Berechtigung dieser Voraussetzung können wir aber nie (insgesamt) überprüfen. Letztlich können wir hier nie wissen, ob wir uns tatsächlich verstehen - wir wissen nur, dass wir es voraussetzen müssen.

 

2. In einem starken empirischen Sinne: aufgrund der empirischen "Tatsache", dass wir eine Sprache teilen, sind wir zu der Annahme berechtigt, dass wir den anderen im Großen und Ganzen bereits verstanden haben; die faktische soziolektale Übereinstimmung der ‚Sprachen' von Interpret und Gegenüber erlaubt eine Bestimmung einzelner unklarer oder unbekannter Ausdrücke.

 

Das Beispiel Davidsons spricht meiner Auffassung nach - und entgegen den transzendental-hermeneutischen Ambitionen Davidsons - doch eher für die zweite Alternative; Davidson scheint mir in seinen instruktiven Beispielen immer insgeheim von dem Vorliegen einer gemeinsamen Sprache auszugehen. Und vertritt nicht auch Liptow diesen Standpunkt, wenn er schreibt: "Alles Verstehen ist daher in dem Sinn ein Interpretieren, dass jedes einzelne Verständnis einer fremden Äußerung im Sinne einer Hypothese gedeutet werden kann." Ist diese Aussage nicht im Sinne der von Liptow skizzierten Interpretation einzelner unbekannter Ausdrücke zu verstehen?

 

Das ließe sich auch anhand der Beispiele plausibilisieren, die Davidson in seinem Aufsatz über Eine Hübsche Unordnung von Epitaphen zur These verleiten, dass es so etwas wie "Sprachen" eigentlich gar nicht gebe - jedenfalls, so Davidson qualifizierend, wenn man unter Sprache das verstehe, was die meisten Philosophen und Linguisten darunter verstünden. Um diese These zu belegen, werden sprachliche Phänomene wie "Malapropismen", Metaphern, ambige Ausdrücke, unvollständige Sätze, Versprecher, usw. herangezogen, deren Interpretation die Grundstruktur von sprachlichen Verstehensprozessen offenlegen soll. Aber auch das sind Beispiele, in denen lediglich die Bedeutung einzelner unbekannter Ausdrücke in Frage steht.

 

Wenn Frau Stöhr im Zauberberg Personen, die unverschämt sind, als "insolvent" bezeichnet oder wenn sie eine von Beethovens Sinfonien als "Erotica" bezeichnet, sind es immer nur einzelne Ausdrücke, die sich als interpretationsbedürftig erweisen (Tielmann 2005). Warum also sollten wir in solchen Fällen nicht sagen, der Frau Stöhr und die meisten anderen Personen des Romans (ebenso wie die meisten Leser des Romans) eine gemeinsame Sprache teilen und dass sie darüber hinaus über Interpretationsheuristiken verfügen, die es ihnen erlauben, Abweichungen vom Standardgebrauch ad hoc zu reinterpretieren - etwa indem sie zunächst nach phonetisch ähnlichen Wörtern suchen, die der Äußerung im fraglichen Handlungskontext eine höhere Plausibilität verleihen usw. In den Worten Baldwins: "[...] in learning a language one is initiated into a network of default conventions from which one can later detach oneself for the purposes of humour or local circumstances" (Baldwin 2006). Aus dieser Perspektive scheint es fragwürdig, dass Heuristiken, die uns dabei helfen, Abweichungen von Standardgebrauch zu verstehen, auch das Verstehen insgesamt (d. h. in Abwesenheit einer geteilten Sprachen) zu tragen vermögen.

 

Literaturhinweise

Thomas Baldwin: Philosophy of Language in the Twentieth Century. In: The Oxford Handbook of Philosophy of Language. Hg. von E. Lepore und B. C. Smith. Oxford 2006, S. 60-99.

Alex Barber: Idiolects (15.11.2004). In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Hg. von E. N. Zalta. URL.

Jonathan Bennett: Linguistic Behaviour. Cambridge 1976.

Donald Davidson: Inquiries Into Truth and Interpretation. Oxford 1984.

Donald Davidson: Truth, Language, and History. Oxford 2004.

Hanjo Glock: Quine and Davidson on Language, Thought and Reality. Cambridge 2003.

James Higginbotham: Languages and Idiolects: Their Language and Ours. In: The Oxford Handbook of Philosophy of Language. Hg. von E. Lepore und B. C. Smith. Oxford 2006, S. 140-148.

David Lewis: Philosophical Papers, Bd. 1. Oxford 1983.

Jasper Liptow: Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis. Weilerswist 2004.

Jasper Liptow: Das Interpretationsproblem aus Sicht der Sprachphilosophie (Typoskript) 2006.

Christian Tielmann: Sprachregeln und Idiolekte. Plädoyer für einen normativistischen Individualismus. Dissertation, Hamburg (Typoskript) 2005.

Albrecht Wellmer: Sprachphilosophie. Eine Vorlesung. Hg. von Th. Hoffmann, J. Rebentisch und R. Sonderegger. Frankfurt am Main 2004.