15. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 20.06.2008

Gideon Stiening (München)

Schlechte Metaphysik?
Zur Kritik der Wissenspoetologie

Streitgespräch mit Daniel Fulda

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Herr Fulda,


eigentlich hätte ich die Einladung zu diesem Streitgespräch, für die ich mich herzlich bedanke, ablehnen müssen, denn zum Thema Contra Poeticam Scientiae habe ich – um es mit einem Titel Lutz Dannebergs zu fassen – im Grunde "nichts Neues zu sagen“[1]: Der Text aus der KulturPoetik enthält meine wichtigsten Argumente.[2]

Nun ist es allerdings erfreulicher Weise so, daß mir in der damaligen Auseinandersetzung mit gewichtigen Vertretern dieses 'Paradigmas‘ die Variante Daniel Fuldas[3] offenbar durch die Lappen gegangen und die Texte zur Debatte um das Verhältnis von Literatur und Wissen, die von Tilmann Köppe u.a. in der Zeitschrift für Germanistik geführt wurde und wird, noch nicht erscheinen war.[4] Zudem fehlten dem kritischen Text aus der KulturPoetik Hinweise auf konstruktive Ausgänge aus dem wissenspoetologischen Dilemma, die ich – anders als Tilmann Köppe – im Hinblick auf eine fruchtbare Verwendung des "Wissens“ als historiographischer Kontextkategorie der Literaturgeschichtsschreibung durchaus sehe.

Aus diesen Gründen habe ich also doch einiges Neue zu sagen, so daß ich hoffentlich weder Sie noch mich langweilen muß. Ich werde versuchen, Ihnen dieses 'Neue’ im Folgenden in vier Punkten vorzustellen:

Erstens werde ich eine kurze Zusammenfassung meiner wichtigsten Kritikpunkte am Paradigma einer sogenannten Poetologie des Wissens vornehmen. Weil es mir in diesem Zusammenhang vor allem um eine Auseinandersetzung mit literatur- bzw. kulturwissenschaftlichen Kategorienbildungen zu tun war und sein wird, die sich mit der Literatur als Gegenstand auseinandersetzt und nicht primär mit wissenschaftlichen Texten, die sich literarischer Formen bedienen – es wird im Laufe des Vortrages hoffentlich deutlich werden, daß eine substanzielle Differenz zwischen beiden Reflexionsformen aufrecht zu erhalten ist –, weil ich also vor allem die literaturwissenschaftliche Seite der Wissenspoetologien betrachtet haben werde, kann ich

zweitens eine Auseinandersetzung mit Daniel Fuldas Vorschlägen für eine Korrelation von Wissen und Literatur im Hinblick auf wissenschaftliche, näherhin geschichtswissenschaftliche Darstellungsformen führen. Als Grundlage für meine kritischen Nachfragen an Fulda dient mir ein demnächst erscheinender Text zu Literarischen Formen in anderen Diskursformationen.[5]

Weil ich aber drittens die begründete Vermutung hege, daß Fulda und mich gegenüber der von Tilmann Köppe glasklar vorgestellten 'analytischen‘ Position zum Thema Wissen und Literatur eher Gemeinsamkeiten verbinden als Differenzen trennen, werde ich – auch um gleichzeitig das pro und contra zwischen uns deutlicher zu konturieren – in einem dritten Schritt eine zweite 'Front‘ eröffnen und die Auseinandersetzung mit Köppes wichtigen Vorschlägen suchen.

Viertens werde ich dann die Skizze einer Konzeption vorstellen, die den Forschungsansatz einer Korrelation von Wissen und Literatur für eine literargeschichtliche – keineswegs allgemein literaturtheoretische – Perspektive konturieren können soll.

 

1. Zusammenfassung der Kritik an der 'Wissenpoetik‘

 

Im Ungrund habe ich drei aus meiner Sicht konstitutive Momente des wissenspoetologischen Forschungsansatzes einer Kritik unterzogen: (1) die spezifische Form der Historisierung des Wissens, (2) die Entdifferenzierung und Entgrenzung des Wissensbegriffs und (3) die angeblich unumgängliche Ästhetisierung bzw. Poetisierung des Wissens. Verbunden wird mit letzterem – und das können wir auch bei Daniel Fulda nachlesen – die These, daß die Darstellungsformen des wissenschaftlichen Wissens seinem jeweiligen Gehalt grundsätzlich nicht äußerlich seien.

(1) Ich hatte im Ungrund vor allem an dem Diskontinuitätsmythologem der weitgehend an Foucault orientierten Wissensgeschichte Anstoß genommen, weil es mir unbegründet erscheint; Lutz Danneberg hat mittlerweile eine weit differenziertere Kritik hieran vorgetragen,[6] so daß ich mich im folgenden auf die bei Foucault diesem Theorem zugrundeliegende Konzeption eines sogenannten "historischen Apriori“ konzentrieren kann, das zu den fundierenden Grundsätzen derzeitiger Kulturwissenschaft und damit auch Wissensgeschichtsschreibung gehört. Um nicht zu viele Umwege und Rücksichten zu nehmen, werde ich mich in der Folge gleich mit Foucault selber befassen:

Denn das Theorem des "historischen Apriori“ entwickelt Foucault in der Archäologie des Wissens als einen für seinen Ansatz grundlegenden Begriff[7] und also solcher hat er in der Formel von der "radikalen Historisierung“[8] Eingang in die Kulturwissenschaften gefunden:

Das [...] moderne Konzept von Kulturwissenschaft beruht auf der Einsicht, daß es nur ein Apriori gibt, das historische Apriori der Kultur.

So Hartmut Böhme, immerhin im Reallexikon.[9] Foucault hatte diesen Begriff schon in der Ordnung der Dinge als historiographische Kategorie eingeführt:

Dieses historische Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, dem alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird. [10]

Die Geschichte des Wissens kann nur ausgehend von dem gebildet werden, was ihm gleichzeitig war, und nicht in Termini gegenseitiger Beeinflussung, sondern in Termini von Bedingungen und in der Zeit gebildeter Apriori.[11]

Mit dieser gewollt paradoxalen Wendung[12] bestimmt Foucault den Geltungsstatus derjenigen rationalen Systematik, die er bisweilen "Episteme“, bisweilen auch "Diskurs“ oder "diskursive Formationen“[13] einer Epoche nennt. Dabei ist eine Epoche keineswegs ihrer jeweiligen Episteme vorgeordnet, sie wird vielmehr allererst durch diese konstituiert. Unter Episteme oder diskursiver Formation versteht Foucault durch alle Stadien seiner theoretischen Entwicklung hindurch eine allen konkreten Wissens- und Erkenntniserscheinungen einer Epoche zugrundeliegende Systematik, die – ohne jemals vollständig ausgeführt zu werden, ja ausgeführt werden zu können[14] – zugleich alles konkrete Denken – sei es wissenschaftliches, sei es lebensweltliches – hervorbringen können soll. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die Ordnung der Dinge bringt der Autor seine Konzeption auf die folgende Bestimmung:

Was ich jedoch erreichen wollte, war, ein positives Unbewußtes des Wissens zu enthüllen: eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist [...]. Was der Naturgeschichte, der Ökonomie und der Grammatik in der Klassik gemeinsam war, war dem Bewußtsein des Wissenschaftlers sicher nicht präsent [...]; aber die Naturgeschichtler, die Ökonomen und die Grammatiker benutzten – was ihnen unbekannt blieb – die gleichen Regeln zur Definition der ihren Untersuchungen eigenen Objekte, zur Ausformung ihrer Begriffe, zum Bau ihrer Theorien. Diese Gesetze des Aufbaus, die für sich selbst nie formuliert worden sind, sondern nur in weit auseinanderklaffenden Theorien, Begriffen und Untersuchungsobjekten zu finden sind, habe ich zu enthüllen versucht, indem ich als den für sie spezifischen Ort eine Ebene isolierte, die ich, vielleicht zu willkürlich, die archäologische nannte.[15]

Der Status der Apriorität soll dieser Systematik aus definitorischen, axiomatischen und regelhaften Wissensbeständen deshalb zukommen, weil sie allem tatsächlichen zeitgenössischen Denken notwendig zugrunde liege. Zugleich "entgeht dieses Apriori nicht der Historizität“, weil es als "eine rein empirische Figur[16] der historiographischen Beschreibung ausschließlich für eine bestimmte Epoche Geltung beanspruchen kann, da jeder 'Übertritt‘ in eine andere Epoche durch die vollständige Aufhebung der vorhergehenden Episteme konstituiert wird. Es ist dieses Epochenverhältnis, das die Diskontinuität in den Rang einer Kategorie erhebt. Dabei nimmt Foucault ausdrücklich in Anspruch, daß seiner Form des historischen Apriori die Historizität nicht äußerlich, sondern diesem an ihm selbst wesentlich eingeschrieben sei:

Nichts wäre also angenehmer, aber irriger, als dieses historische Apriori als ein formales Apriori zu begreifen, das darüber hinaus mit einer Geschichte versehen wäre: eine große unbewegliche und leere Figur, die eines Tages an der Oberfläche der Zeit auftauchte, die auf das Denken der Menschen eine Gewaltherrschaft ausübte, der niemand sich zu entziehen wüßte, die dann mit einem Schlag in der Verdunkelung verschwände, für die kein Ereignis eine Vorbedingung gestellt hätte: synkopiertes Transzendental, ein Spiel blinkender Formen. Das formale Apriori und das historische Apriori stehen nicht auf demselben Niveau, noch sind sie von gleicher Natur [...].[17]

Begründet wird diese Historizität des historischen Apriori also mit einer Eigenschaft, nach der es nicht an ihm selbst rekonstruierbar, sondern einzig über seine durchaus fragmentarischen Realisationen im Wissen der Zeitgenossen erfaßbar ist; damit aber ist es durchaus nicht an ihm selbst historisch, weil ihm seine historische Veränderbarkeit gerade nicht als notwendige oder gar selbstbewußte eingeschrieben ist, sondern nur für andere, nämlich die archivalischen Historiographen. Insofern bleibt Foucaults Argument für die Historizität des historischen Apriori ein methodisches und entbehrt jener systematischen Begründungstheorie, die zu sein es zugleich beanspruchen muß, will es neben der Historizität auch eine Apriorität beweisen. Doch ebendies mißlingt: Foucaults stets nur fragmentarisch rekonstruierbare Episteme übersteigt weder in methodologischer noch in systematischer Hinsicht den Status des von Kant präzise bestimmten empirischen Allgemeinen,[18] das historiographischen Urteilen auch in der Tat zukommt, dem aber grundsätzlich alle Apriorität abgesprochen werden muß – mit Ausnahme der nicht unerheblichen formalen Bedingungen der Möglichkeit solcher Urteile der Geschichtswissenschaften, von denen allerdings, wie auch in den Kulturwissenschaften, zwecks "radikaler Historisierung“ abgesehen wird. Foucault ist sich dieses Sachverhalts auch durchaus bewußt – nur deshalb spricht er von den verschiedenen Niveaus von formalem und historischem Apriori –, zugleich bedient er sich des Terminus der Apriorität für empirische Allgemeinheiten, weil er alle formale, d.h. historisch invariante Apriorität für unmöglich erklärt.[19] Im Rahmen des von Foucault begründeten, letztlich skeptizistischen[20] Historismus[21] kann es gar nicht mehr als empirische Allgemeinheiten geben, eine tatsächliche Apriorität schließt sein "gnadenlose[r] Historismus“[22] vollständig, aber begründungslos aus. Die unausweichliche Antinomie dieser zunächst ausschließlich erkenntnistheoretischen – und erst in ihren Konsequenzen wissenschaftsmethodologischen – Prämisse hätte Foucault aber bei einer unverstellteren als seiner tatsächlichen Lektüre[23] in der Kritik der reinen Vernunft nachlesen können.[24]

Eine allgemeine Kulturwissenschaft ebenso wie eine besondere Wissensgeschichte aber, die tatsächlich die Leistungen der Sozialgeschichte ebenso wie die der Ideen- und Philosophiegeschichtsschreibung überbieten können will, wird sich vom antinomischen Historismus des historischen Apriori verabschieden müssen. Historiographie – sei es als ausdifferenzierte Literatur-, Philosophie-, Theologie- oder Wissenschaftsgeschichte, sei es als übergreifende kulturalistische Wissensgeschichte – wird an der Formulierung formaler Apriorismen, die den Status des methodologischen Postulats der Kontexthierarchisierung übersteigen müssen, nicht vorbei kommen. So hat Wolfgang Röd für die Philosophiegeschichtsschreibung die Möglichkeit und Produktivität der Begriffe des Fortschritts und Rückschritts als historiographischer Kategorien nahegelegt – unter strenger Berücksichtigung des Umstands, "daß die absolute Wahrheit unerreichbar“ ist.[25] Auch in der Literaturwissenschaft werden solche Überlegungen im Rahmen einer bestimmten, u.a. an Kurt Flasch anschließenden Problem- oder Wissensgeschichte neuerdings wieder angestellt.[26] Und auch Olaf Breidbachs Modell einer zukünftigen Wissensgeschichte ist dezidiert nicht-skeptizistisch und daher antihistoristisch.[27]

Weil alle Formen des Historismus in Antimonien versinken, werden wir zu Versuchen einer Rekonstruktion von Kontinuität und Diskontinuität vermittelnden Verlaufsformen der Geschichte übergehen müssen, die – sei es mithilfe der Kategorie "Säkularisierung“,[28] oder der einer "funktionale Ausdifferenzierung“ oder auch nur eines "Besserverstehens“[29] – einzelne Gegenstände in übergreifende Zusammenhänge historischer Veränderung so integriert, daß sie als einzelne allererst als durch ihren Zusammenhang konstituierte erkennbar werden und diesen ihren Zusammenhang eine Logik der Veränderung auszeichnet. Und damit keine Mißverständnisse aufkommen: von Geschichtsphilosophie ist man mit diesen zu diskutierenden Modellen historischer Verlaufsformen noch Welten entfernt.

(2) Zweitens kritisiere ich an den Formen der Wissenspoetik einen undifferenzierten, unabgegrenzten und historisch unbestimmten Begriff des Wissens, der – ebenfalls auf Foucault zurückgehend – offenbar jede Form mentaler Repräsentation unter sich faßt, oder, in der mir geläufigeren Diktion: mit Vorstellungen überhaupt identisch ist. Man kann auch sagen: alles eben, was mir so durch die Birne schießt, ist für die Poetologen des Wissen je schon Wissen.

Systematisch scheint dieser Wissensbegriff in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens bereitet dieser Begriff erhebliche Schwierigkeiten, weil es vor dem Hintergrund des diskursiven Universalismus der diskursanalytischen Wissensgeschichte keinerlei Unterscheidung – weder interne noch externe, mentale noch extramentale – gegenüber dem bzw. vom Wissen geben kann, und somit solcherart Wissensgeschichte zur Scientia universalis erhoben werden muß. Zu welch kolossalen Ungereimtheiten jedoch diese Überpotenzierung kultur-, hier wissensgeschichtlicher Paradigmatisierung führt, läßt sich an einem Beispiel aus der Geschichtswissenschaft erläutern: Dirk van Laak hat im Jahre 2004 eine Arbeit über den Deutschen Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, die sich selbst dezidiert wissensgeschichtlich versteht und begründet.[30] Herfried Münkler, der als Historiker politischer Ideen durchaus auch so etwas wie ein Wissenshistoriker ist, hat diese Studie und ihr methodisches Selbstverständnis aber u.a. wie folgt kritisiert:

Nun zeigt aber gerade diese Arbeit, in welche Aporien eine Geschichte des Imperialismus gerät, die sich nicht auf einen politischen oder ökonomischen Kern konzentriert, sondern kultur- und wissensgeschichtlich angelegt ist: Sie wird tendenziell ununterscheidbar von der Geschichte der Entdeckungen und der Sammlung des Wissens über bis dato Unbekanntes.[31]

Das ist doch nun nichts anderes als das überzeugende Plädoyer dafür, Wissensgeschichte nicht zur kulturwissenschaftlich fundierten Scientia universalis, zu einer uneinschränkbaren kulturwissenschaftlichen Wissensgeschichte zu machen. Es gibt Gegenstände historischer Wissenschaften, die mit den Instrumenten einer Wissensgeschichte nicht angemessen zu erfassen sind.

Diese hier aufscheinende grundlegendere Debatte kann aber nicht mehr auf der Ebene literaturwissenschaftlicher Methodologie bzw. allgemeiner oder spezieller Literaturtheorie ausgetragen werden, denn die Frage nach dem Verhältnis von Vorstellungen und dem von und in ihnen vorgestellten Gegenständen ist nur auf der Grundlage erkenntnistheoretischer, metaphysischer und psychologischer – aber sicher vordringlich nicht ästhetischer oder poetologischer Fundierungsprogramme – zu führen. Das muß und kann in vorliegendem Zusammenhang gar nicht geleistet werden; ich wollte nur daran erinnern, daß sich die Germanistik nicht bewußtlos irgendwelchen fundamentaltheoretischen Voraussetzungen an den Hals wirft, ohne zu bedenken, daß es immer auch gute Kritiken dazu gibt, die es zu bedenken gilt, und daß es zwischen der Geschichte der Ideen, Theorien, Mentalen Repräsentationen etc. – nennen wir es Wissensgeschichte – einerseits und der – für uns natürlich immer vermittelten – Geschichte der Realien einen grundlegenden, wenigstens aber einen systematisch zu bestimmenden, methodologisch zu reflektierenden und inhaltlich zu gestaltenden Unterschied gibt.

Zweitens führt die Identifikation des Wissensbegriffes mit dem der Vorstellung überhaupt (der mentalen Repräsentation, Idee überhaupt) ohne Not zu einer untunlichen Entdifferenzierung dieses seit Aristoteles klar bestimmten Begriffs. Es scheint mir nicht nur vor dem Hintergrund der von Tilmann Köppe ganz zu Recht geforderten Anschlußfähigkeit an andere Fächer notwendig, sondern auch aus sachlichen und forschungspragmatischen Gründen sinnvoll, ganz traditionell zwischen Wissen, Glauben, Meinen, Empfinden, Einbilden, Fühlen etc. zu differenzieren. Das sind präzise unterscheidbare mentale Prozesse bzw. Vermögen, die mit je unterschiedlichen Verfahren anhand unterschiedlicher Kriterien klar bestimmbar sind, sich in Literatur je anders realisieren und je anders analysieren und interpretieren lassen. Zu den Bedingungen des Wissens gehört aus guten Gründen die Urteilsform ebenso wie der Wahrheitsanspruch und die Begründungsleistung. Dem Glauben wie dem Meinen oder Fühlen, wie erst recht dem Erzählen fehlen mehrere dieser Kriterien, bzw. sie werden durch andere bestimmt. Deshalb ist auch – und darin will ich Köppe noch mal mit Nachdruck Recht geben – Literatur kein Wissen, bzw.: sie kann keinen Wissensanspruch erheben.

(3) Letztlich nämlich scheint mir nun die eigentlich Poetologisierung des (wissenschaftlichen) Wissens in den im Ungrund zitierten Varianten in hohem Maße problematisch. Dabei will ich zunächst auf jenen theoretischen Umstand hinweisen, der mich am meisten verblüfft hat: Ich meine die nachgerade dolle These von der "unauflöslichen Verschränkung von Poetologie und Epistemologie“,[32] d.h. jene von mir als praemissa maxima des Programms isolierte Behauptung:

Jede epistemologische Klärung ist mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft.[33]

Jeder, der sich auch nur am Rande mit Erkenntnistheorie beschäftigt hat, weiß, daß diese These nicht zu halten ist; es ist schlicht falsch, daß jeder Erkenntnisvorgang (oder jede erkenntnistheoretische These oder gar Demonstration) an ästhetische Kriterien gebunden sei – und das gilt insbesondere für das Wissen im eigentlichen Sinne.[34] Weil für die Geltung dieser wuchtigen These allerdings keinerlei Begründung vorgetragen wird, kann man sie auch dem enthusiastischen Furor wissenspoetologischer Theoriebildung zuschreiben und damit ad acta legen. Nun hat Daniel Fulda jedoch in dieser wissenschaftsepistemologischen Sparte des wissenspoetologischen Paradigmas Vorschläge gemacht, die erstens von der Gigantomanie der referierten Varianten weit entfernt und zweitens mit Begründung versehen wurden, und dennoch drittens – Sie werden es vermutet haben – ebenso einer Kritik verfallen müssen. Und so komme ich zu meinem zweiten Abschnitt:

 

2. Daniel Fuldas Thesen zu einer narrativen Geschichtsschreibung

 

Sie werden sich vorstellen können, lieber Herr Fulda, daß ich eine ganze Reihe von Frage an Ihren klaren und präzisen Text zu stellen hätte, so u.a. ob denn "Fiktion“ tatsächlich nur eine mentale Konstruktion sei, die über das Empirische hinausgehe (S. 14), weil sie natürlich auch von allen rationalen Realitäten sich abgrenzt, gerade indem sie Empirisches fingiert oder imaginiert (im Unterschied zur Idee oder zum Begriff, die nur unter falschen Voraussetzungen als Fiktionen bezeichnet werden können); so daß der "Einsatz der Einbildungskraft bei der Geschichtsschreibung“ (S. 21) nur die reproduktive Einbildungskraft meinen kann, weil diese bei der Formierung empirischer Allgemeinheit erforderlich ist, während erst die produktive Einbildungskraft Fiktionen hervorbringt, dann aber außerhalb der Geschichtswissenschaften; oder gar ob Ihre restriktive Bestimmung von Fiktion Sie nicht nur als historiographischen Empiriker, sondern auch und vor allem als epistemologischen Empiristen ausweist, für den es wenig mehr als Empirie geben kann, was allerdings eine Begründungsleistung erforderte.

Aber wir wollen hier nicht über allgemein erkenntnistheoretische Voraussetzungsfragen literaturwissenschaftlicher Methodologie streiten, sondern über ein bestimmtes Segment. Wenn ich richtig sehe, kehrt die wissenspoetologische praemissa maxima in verfeinerter Form in Ihrer folgenden These wieder:

In einem prägnanten Sinne ist daher schon historisches Denken genuin und generell narrativ verfaßt.

Damit keine Mißverständnisse hinsichtlich meines Verständnisses Ihrer These aufkommt: Keineswegs reißen Sie die Grenzen zwischen Historiographie und Literatur grundsätzlich ein; keineswegs aber halten Sie die Grenze für undurchlässig, geht es Ihnen doch um Trans- und Interferenzen. Dennoch scheint mir schon die generalisierende These, daß historisches Denken an sich narrativ verfaßt sei, in dieser prinzipiierenden Form unhaltbar – allein, weil keinerlei Begründungtheorie für diese umfassende These geboten wird.

Darüber hinaus und vor allem scheint mir vollends inakzeptabel, daß Sie mit der "prinzipiellen Voraussetzung, daß Geschichte erzählförmig sei,“ (S. 22) die Grenzen der methodologischen Debatte unzulässig überschreiten, weil hier Momente einer besonderen Entwicklung des Denkens zu Strukturmomenten des Seins erhoben werden; nicht mehr die Geschichtsschreibung, sondern die Geschichte selbst wird handstreichartig der Narrationskategorie unterworfen. Solcherart unbegründete Übertragung von möglichen Denkformen auf die gedachte Sache gilt aber seit Kant zu Recht als schlechte Metaphysik.

Ich komme dem Empiristen Daniel Fulda mit einem ganz empirischen Befund entgegen: es gibt doch in der ausdifferenzierten Landschaft der Historiographie des 20. Jahrhunderts genügend Beispiele, die Ihre These von der Erzählförmigkeit der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung weder theoretisch noch praktisch teilen: Zwar bedient sich die von Ihnen nur am Rande erwähnte Strukturgeschichte der Verweise auf fiktionale wie faktuale Narrationen gerne zu Illustrationszwecken für die lebensweltlichen Konkretionen der von ihr herausgearbeiteten Strukturen, auch muß selbst die Strukturgeschichte auf erzählende Verfahren zurückgreifen, wenn Handlungen oder Ereignisse darzustellen sind; aber im Zentrum geht es dieser Geschichtsschreibung doch um den Nachweis von Bedingungs- und Verursachungsverhältnisses. Strukturgeschichte ist in eminentem Sinne deshalb nicht narrativ (oder phänomenologisch), weil sie dem Telos nachfolgt, Ursachen, Gründe oder Zwecke, überhaupt Begründungen für die geschilderten Verläufe in rationaler Form herauszuarbeiten. Sie ist daher im eminenten Sinne Wissensproduzentin und daher gerade nicht literatur- bzw. narrationsaffin. Die Strukturgeschichte produziert damit auch keineswegs jenen von Ihnen der phänomenologischen bzw. narrativen Historiographie zugeschriebenen "Sinn“, der erst durch ein externes Telos den Verläufen zugeschrieben werden kann: Strukturgeschichte rekonstruiert Ursachen und Gründe, sie produziert keinen Sinn.

Das braucht man ja nicht für eine richtige oder überzeugende Konzeption zu halten. Im Hinblick auf die Frage des allgemeinen Verhältnisses von Historiographie und Literatur bedarf es jedoch einer Berücksichtigung dieses Phänomens, das die von Ihnen bestrittene strenge Grenzziehung zwingend macht und daher eine Prinzipiierung der These von einem narrativem Kern von Geschichte überhaupt verunmöglicht. Es sei denn, Sie schrieben der Strukturgeschichtsschreibung den Status, überhaupt Historiographie zu sein, ab. Wenn Sie das aber nicht tun, dann müßte daraus doch folgen, daß keineswegs die Geschichtsschreibung überhaupt, sondern höchstens bestimmte Formen derselben erzählförmig sein können.

Ich will noch ein weiteres Beispiel vortragen: die mit dem Namen Hans Blumenberg, mehr noch mit den Namen Kurt Flasch und Wolfgang Röd[35] aufgerufenen Formen allgemeiner Ideen- bzw. speziellerer Philosophiegeschichtsschreibung bemüht sich darum, im Hinblick auf die von beiden Autoren vorangetriebene Kontextualisierung, die ohne bestimmte Narrationen nicht auskommen, Verlaufsformen begrifflicher Systematiken zu rekonstruieren, die mit einem philosophiegeschichtlichen Wissensanspruch versehen sind, der mit Beschreibung nicht zu verwechseln ist. Kurz, es gibt vielfältige Formen der Historiographie, auf welche die "prinzipielle Voraussetzung, daß Geschichte erzählförmig“ sei, nicht zutrifft.

Nehmen wir von den poetologischen oder narratologischen Prinipiierung des Wissens im Allgemeinen oder des historiographischen Wissens im Besonderen Abstand, wird der Blick frei für Fragen, die ganz ohne den Ballast des Fundamentalen darauf abzielen, welche Rolle die Darstellungsformen der Wissenschaften für deren semantische und systematischen Erkenntnisgehalte spielen. Es ist irritierend, daß die von Lutz Danneberg und Jürg Niederhäuser schon vor zehn Jahren vorgelegten Ergebnisse in methodologischer und einzelanalytischer Hinsicht von der Wissenspoetologie nicht zur Kenntnis genommen werden.[36] Hier läßt sich nämlich entnehmen, daß die These, die Formen des wissenschaftlichen Schreibens würden deren Gehalte durchgehend bestimmen, durchaus zu differenzieren ist. Denn natürlich gibt es auch wissenschaftliche Texte, deren äußere Form gegenüber ihren Gehalten indifferent ist; schon Hegel zeigte das für Spinozas oder Christian Wolffs Paraphierung ihrer Deduktionen; und selbst Rousseaus Contrat Social ist zwar sprachlich ansprechender als Pufendorfs De officio, gegenüber den jeweiligen naturrechtlichen Gehalten ist diese Frage aber allerhöchstens zweitrangig. Vor allem sind diese Darstellungsformen des wissenschaftlichen Wissens durchaus nicht durchgehend an literarische bzw. ästhetische oder auch nur allgemein narrative Kriterien gebunden, sie folgen – wie Hegels Phänomenologie oder nehmen Sie Auerbachs Mimesis oder auch – ist man schon in Göttingen – Konrad Cramers bedeutendes Buch über Nicht-reine synthetische Urteile apriori[37] – ihren je eigenen formalen Gesetzen. Die Aufgabe, die Darstellungsformen wissenschaftlicher Texte nach Inhalt und Funktion zu bestimmen, muß mithin unter differenzierteren Kriterien erfolgen als dem Kategorienapparat der Poetologien des Wissens.

Trotz aller Kritik an dieser Form der Korrelation von Wissen und Literatur verbindet mich mit Daniel Fulda in einem bestimmten Sinne die Annahme, daß es nicht nur möglich, sondern erheblich förderlich ist, Wissen als historiographische Kategorie zu erfassen und fruchtbar zu machen sowohl für die besonderen literatur- und die allgemeinen kunsthistoriographischen Wissenschaften als auch für eine allgemeine Geschichtsschreibung. Die Möglichkeit dieser Gemeinsamkeit hat allererst Tilmann Köppe mit seinem Versuch der Austreibung des Wissens aus den Literaturwissenschaften geschaffen. So komme ich zu meinem dritten Punkt.

 

3. Zu Tilmann Köppes analytischem Kehraus des Wissens aus der Literaturwissenschaft

 

Zunächst kann und will ich Tilmann Köppe in zwei Punkten mit allem Nachdruck Recht geben:

1. Auch Literaturwissenschaftler sind dazu verpflichtet, die von ihnen verwendeten Begriffe klar und deutlich zu bestimmen; Du sagst 'es täte uns Not‘, gerade weil wir uns als wissenschaftliche Disziplin verstehen und das ist uneingeschränkt zu bekräftigen. Dieses Postulat gilt nicht nur wegen der Anschlußfähigkeit, sondern weil wir als Wissenschaftler dazu verpflichtet sind, Wissen zu produzieren, das mithin begründet sein muß und ebenso verifikations- wie falsifikationsfähig ist. Die Annahme, es gäbe so etwas wie weiche Kategorien oder 'idiosynkratisches‘ Denken versucht sich aus dieser Verpflichtung auf Wahrheitsanspruch oder Falschheitsnachweis herauszustehlen.[38]

2. Der Terminus "Wissen“ ist aus guten, nämlich den eben benannten Gründen gemäß einem szientifischen Wahrheitsanspruch seit Aristoteles zum Begriff bestimmt durch die Kriterien der wahren gerechtfertigten Überzeugung; man kann auch vom "subjektiven und objektiven Fürwahrhalten“ sprechen, und es in der Abgrenzung vom Meinen und Glauben wie folgt bestimmen:

Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt) hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben, Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv wie objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst) die objektive Gewißheit (für jedermann).“[39]

Es bedarf also für das Wissen – darauf hat Tilmann Köppe zu Recht das Fach hingewiesen –der Urteilsform, des Wahrheitsanspruches und der diesen transportierenden Begründungsleistung, um Wissen vorliegen zu haben.

Daraus folgt aber ohne alle Einschränkungen, daß Literatur kein Wissen ist, d.h. daß literarische Texte keinen Wissensanspruch vertreten. Auch wenn von Jochen Hörisch, der vom Wissen der Literatur spricht,[40] bis zu den Herausgebern der Scientia Poetica, die 2004 Literatur als kulturelles Wissen bezeichneten,[41] eine methodologisch breit gefächerte Gruppe des Faches dies annimmt und natürlich immer wieder Literaten den Anspruch erheben, Wissen allererst in Literatur realisieren zu können, ist Köppe nachdrücklich Recht zu geben mit seiner strengen epistemologischen Distinktion zwischen Wissen und Literatur, weil allein die Urteilsform in vielen poetischen Texten fehlt, mehr noch der Wahrheitsanspruch und vor allem die Begründungsleistung.

Verfehlt aber halte ich die hermeneutische These, Literatur enthalte kein Wissen; sie basiert auf dem von Andreas Dittrich eingeklagten Kategorienfehler, den Köppe begeht, indem er einen erkenntnistheoretischen Wissensbegriff mit einem wissensgeschichtlichen identifiziert. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wissen taucht nicht mehr in seinem materialen Status als Wissen in Literatur auf; es wäre ein Unsinn, Hölderlins Reflexionen auf die naturrechtlichen Auseinandersetzung zwischen Kant und Fichte, die er in spezifischer Weise in seinem Roman gestaltet, unter philosophiegeschichtlichen – also systematischen und historischen – Gesichtspunkten als Moment der philosophischen Debatte zu bestimmen und zu rekonstruieren.[42] Dennoch ist der Literarhistoriker dazu verpflichtet, diesen Wissenskontext als Moment seiner poetischen Gestaltung im Textganzen zu kennen, zu analysieren und zu interpretieren. Ein wichtiger Unterschied zwischen der erkenntnistheoretischen und der wissensgeschichtlichen Wissenskategorie besteht also darin, daß man das in Literatur gestaltete Wissen nicht auf seinen materialen Wahrheitsgehalt überprüfen muß, denn dann käme man bei chiromantischen oder magnestistischen Wissensbeständen, die die Literatur u.a. von Tieck bis Thomas aufruft, zu dem wenig aufregenden Urteil: Alles Quatsch!

Ich kann aber die Kriterien des Wissens in formaler Hinsicht überprüfen und dann feststellen, daß der historische Autor in seinem literarischen Text mit diesen historischen Wissensbeständen arbeitet und fragen: wozu? – Insofern ist Andreas Dittrichs Kritik an Deiner Kritik zuzustimmen, auch wenn es nicht um Fragen der Bescheidenheit geht, weil damit ein qualitatives Problem quantifiziert wird: Wissensgeschichte ist nicht bescheidener als Erkenntnistheorie, es geht beiden Disziplinen um je Anderes. Wir müssen eben unterscheiden und das durch klare und deutliche Begriffsbestimmungen. Ich komme damit zu meinem letzten kürzesten Abschnitt.

 

4. 'Wissen und Literatur': Skizze eine Forschungsprogramms

 

"Wissen“ ist für die Literaturwissenschaft vor allem in literarhistorischen Zusammenhängen von produktiver Bedeutung. Ich benutze den Begriff mithin nicht in erkenntnistheoretischer, sondern in historiographischer Hinsicht als Kategorie, indem wissensgeschichtliche Kontexte in ihrem Gehalt und ihrer Funktion innerhalb des literarischen Textes bestimmt werden können, was oftmals unerläßlich ist. Zum Zwecke dieser Kategorisierung kann und muß man den Begriff als formalen bestimmen, um zu überprüfen, ob jene Kriterien, die die Tradition zu Recht an ihm bestimmt hat, anzuwenden sind. Sind sie es für bestimmte Gehalte des Textes nicht, dann muß ich eben zu Meines- und Glaubens, zu Gefühls- oder Empfindungsgeschichten als Kontexten übergehen oder gar zu politik- oder sozialgeschichtlichen Realien, die andere und oftmals konkurrierende Kontexte abgeben können.

Die hier skizzierte Wissensgeschichte, die nur ein Segment einer übergreifenden ideengeschichtlichen Kontextualisierung der Literaturgeschichte zu betrieben versucht, bewegt sich in ihrem Selbstverständnis keineswegs "nach der Sozialgeschichte“, sie versucht diese nur in regelgeleiteter Form zu ergänzen. Ich bewege mich also – so hoffe ich ein wenig gezeigt zu haben – jenseits der Alternative zwischen der wissenspoetologischen Überpotenzierung und der wissensepistemologischen Depotenzierung des Wissensbegriffs, indem ich gegen ersteres an einem differenzierten Begriff des Wissens festhalten kann, der die Bestimmungen der Tradition aufnimmt und so an dem eigenständigen Geltungsanspruch wissenschaftlichen Wissens gegen literarische Reflexionen festhält, und gegen letzteres durch den rein formalen Status seiner Momente die historischen Variationen nicht an einem materialen Wissensgehalt überprüfen muß. So kann ich an einem bestimmten Segment einer umfassenderen Kontextualisierungsgeschichte literarhistorischer Gegenstände arbeiten, ohne mich in philosophisch-systematische Auseinandersetzung zu verstricken.

Lassen Sie mich abschließend dieses Verständnis von Wissensgeschichte an einem Beispiel erläutern: Hölderlin ging es in seinem Briefroman Hyperion nachweislich darum, die von Kant im Methodenkapitel der Kritik der praktischen Vernunft formulierte Aufgabe, "wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d.i. die objektiv praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne,“[43] in einem idealtypischen und zugleich lebensweltlichen konkretisierten Fall zu reflektieren und literarisch zu gestalten. Der Interpret des Textes ist nun nicht nur verpflichtet, sondern für das Verständnis des Textes auch genötigt, diesen Kontext zu erschließen. Das heißt u.a., daß man unabhängig von literarhistorischen Fragen erstmal die kantische Ethik in ihrem systematischen Gehalt begreifen muß, um das von Hölderlin offenbar geteilte Problem zu erkennen und dann seine spezifische Antwort darauf zu rekonstruieren. Ob aber der kategorische Imperativ als Maxime meines Handelns tatsächlich, also systematisch taugt oder nicht, ist für diese literarhistorische Frage jedoch gleichgültig; daß gleichwohl seine Geltung einen immensen Wissensaufwand produziert, scheint jedoch ebenso klar. So ist er aber als Kontext in diesem Roman präsent, der sich darum bemüht, eine spezifische Folgeproblematik zu reflektieren und poetisch zu gestalten, ohne daß seiner Geltung im Roman jene Geltung in der Kritik der praktischen Vernunft zugeschrieben werden müßte oder gar von Hölderlin zugeschrieben würde.

 



[1] Lutz Danneberg: "Ich habe nichts neues zu sagen ...“ In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 434–438.

[2] Gideon Stiening: Am "Ungrund“. Was sind und zu welchem Ende studiert man 'Poetologien des Wissens‘? In: KulturPoetik 2/2007, S. 234–248.

[3] Daniel Fulda: Strukturanalytische Hermeneutik: Eine Methode zur Korrelation von Geschichte und Textverfahren. In: ders. U. Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2002, S. 39–60 sowie ders.: u. Stefan Matuschek: Literarische Formen in anderen Diskursformen: Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. [Revisionen 2] Berlin, New York 2008 [i.D.].

[4] Vgl. hierzu die Debatte zwischen Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. Zeitschrift für Germanistik, N. F. XVII – 2/2007, S. 398–410; Roland Borgards: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe. In: ebd., S. 425–428; Andreas Dittrich: Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissensgeschichte. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. XVII – 3/2007, S.631–637 und erneut Tilmann Köppe: Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. Eine Replik auf Roland Borgards und Andreas Dittrich. In: ebd., S. 638–646.

[5] Vgl. Fulda u. Matuschek: Literarische Formen (Anm. 3), S. 13 ff.

[6] Vgl. hierzu Lutz Danneberg: Epistemische Situation, kognitive Asymmetrie und kontrafaktische Imagination. In: Lutz Raphael u. Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 193–221.

[7] Michael Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1981, S. 183 ff.

[8] Zur Verwendung der Begriffs der "radikalen Historisierung“ vgl. u.a. Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001, S. 170, Jürgen Martschukat: Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt, New York 2002, S. 14 sowie Petra Gehring: Minotaurus zwischen den Regalen, Foucault in der Philosophie. In: Clemens Kammler u. Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. München 2007, S. 29–44, spez. S. 30.

[9] Hartmut Böhme: Art. Kulturwissenschaft. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.a., Berlin, New York 1997–2004, Bd. II, S. 356-359, hier S. 357.

[10] Michael Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 131995, S. 204.

[11] Ebd., S. 261.

[12] In der Archäologie des Wissens ([Anm. 7], S. 184) gesteht Foucault explizit ein: "Diese beiden Worte nebeneinander rufen eine etwas schrille Wirkung hervor.“ Zu Recht verschärft Johannes Ulrich Schneider (Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte. In: Axel Honneth u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 S. 220–229) die Problematik der Formel, wenn er festhält: "Man kann bedauern, daß Foucault mit dem Begriff des historischen Apriori eine methodologische Auskunftsverweigerung in seine Philosophie eingebaut hat, als expliziten Verweis auf eine nicht mehr explizierbare Dimension.“ (ebd., S. 225).

[13] Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 7), S. 225–228; vgl. hierzu auch Wolfgang Detel: Einleitung. Ordnungen des Wissens. In: Honneth u. Saar (Hg.): Zwischenbilanz (Anm. 12), S. 181–191, spez. S. 184 f.

[14] Siehe hierzu Michel Foucault: Vorwort zur Englischen Ausgabe der Ordnung der Dinge. In: Ders.: Dits et Écrits. Schriften in 4 Bdn. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a.M. 2001–2005, Bd. II, S. 9–176, hier S. 12.

[15] Foucault: Ordnung der Dinge (Anm. 10), S. 11 f. [Vorwort zur deutschen Ausgabe].

[16] Beide Zitate Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 7), S. 185; Hervorhebung von mir.

[17] Ebd., S. 186.

[18] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1990, B 3 ff.: "Die empirische Allgemeinheit ist also nur eine willkürliche Steigerung der Gültigkeit, von der, welche in den meisten Fällen, zu der, die in allen Fällen gilt [...].“

[19] Vgl. hierzu insbesondere das berühmte Kapitel Das Empirische und das Transzendentale in Foucault: Ordnung der Dinge (Anm. 10), S. 384–389.

[20] Fernando Suárez Müller: Skepsis und Geschichte. Das Werk Michael Foucaults im Lichte des absoluten Idealismus. Würzburg 2004.

[21] Zum Historismus als Fundament der Foucaultschen Theorie vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt 1985, S. 296, 324, 326 u.ö., sowie Manfred Frank: Ein Grundelement der historischen Analyse: die Diskontinuität. Die Epochenwende von 1775 in Foucaults "Archäologie“. In: Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. [Poetik und Hermeneutik XII] . München 1987, S. 97–130, spez. S. 103 ff.

[22] Habermas: Der philosophische Diskurs (Anm. 21), S. 296.

[23] Vgl. hierzu die – allerdings gegen den Strich zu lesenden – Ausführungen von Hemminger: Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants? Berlin, Wien 2004, S. 23–63

[24] Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 5 sowie B 880–884.

[25] Wolfgang Röd: Fortschritt und Rückschritt in der Philosophiehistorie. In: Rolf W. Puster (Hg.): Veritas filia Temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte. FS für Rainer Specht zum 65. Geburtstag. Berlin, New York 1995, S. 31–43.

[26] Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. 2 Bde. [Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart; Bd. 2: Theorie der Philosophiehistorie] Frankfurt a.M. 2003/05; Dirk Werle: Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006). S. 478–498.

[27] Vgl. hierzu Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre. München 2006.

[28] Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1988.

[29] Lutz Danneberg: Besserverstehen. Zur Analyse und Entstehung einer hermeneutischen Maxime. In: Fotis Jannidis, Simone Winko, Gerhard Lauer (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin, New York 2003, S. 644–711.

[30] Vgl. Dirk van Laak: "Über alles in der Welt“. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005.

[31] Herfried Münkler: Mit Humboldt zum Platz an der Sonne fahren. Eine kulturwissenschaftliche Drehung: Dirk van Laak rechtet über den deutschen Imperialismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.10.2005, L 40.

[32] Bernhard Dotzler: Literaturforschung & Wissen(schaft)sgeschichte. Vorwort. In: "fülle der combinationen“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Bernard Dotzler u. Sigrid Weigel. München 2005, S. 12.

[33] Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002.

[34] Vgl. hierzu u.a. die von den Poetologen des Wissens nicht im Ansatz wahrgenommenen analytischen Debatte bei Gerhard Ernst: Das Problem des Wissens. Paderborn 2002 oder Frank Hofmann: Wahrheit und Wissen. Einige Überlegungen zur epistemischen Normativität. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), S. 147–174.

[35] Vgl. die in Anm. 24 und 25 zitierten Schriften.

[36] Lutz Danneberg u. Jürg Niederhäuser: Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen, in: Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, hg. v. Lutz Danneberg u. Jürg Niederhäuser. Tübingen. 1998.

[37] Konrad Cramer: Nicht-reine synthetische Urteile apriori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Kants. Frankfurt a.M. 1987.

[38] Vgl. hierzu Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie. In: KulturPoetik 2/2007, S. 249–258.

[39] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 850.

[40] Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2008.

[41] Vorwort der Herausgeber. In: Scientia Poetica 8 (2004), S. VII–IX.

[42] Auch diese Festlegung ist unter bestimmten methodischen Gesichtspunkten zu relativieren, leistet doch Dieter Henrich mit seiner Variante der Konstellationsforschung Interpretationen der literarischen Texte Hölderlins in philosophiehistorischer Absicht – ohne diese Texte allerdings auf jene Funktion einzuschränken; vgl. Dieter Henrich: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986; ders.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stuttgart 1992.

[43] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, Bd. VI, S. 287.