4. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie, 02.12.2005

Tom Kindt

Korreferat zu Michael Titzmann: Strukturalismus

Bezugspunkt ist im folgenden Michael Titzmanns Artikel "Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik" (in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg. von Roland Posner et al. Berlin/New York 2003 [= HSK 13.3], S. 3028-3103).

Im Blickpunkt meiner Hinweise steht nicht die LS/sTA (fortan LS) als Wissenschaft bzw. Vorschlag der Modellierung der LW; ich werde mich auf ein paar Anmerkungen zu den Vorschlägen der LS zu einem wichtigen Bereich der Theoriebildung in der LW beschränken - zur Theorie der Textanalyse/Interpretation, die auch von der LS als "die konstitutive und fundamentale literaturgeschichtliche und literatursemiotische Tätigkeit" (3087) angesehen wird (dieser Bereich ist zudem das, was gemeinhin den Kern von Literaturtheorien darstellt).
Nicht unmittelbar eingehen werde ich auf die wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Selbstverortung der LS, d.h. auf die Stellungnahmen zu konkurrierenden Interpretationstheorien, obwohl mir da theoretisch vieles einleuchtend und historisch einiges zweifelhaft erscheint. Mittelbar werde ich auf die Frage der Konkurrenz von Richtungen der LW freilich doch zu sprechen kommen - denn durch meine Anmerkungen zur Interpretationstheorie der LS sollte deutlich werden, daß ich für einen Dialog bzw. sogar für eine Kooperation der LS mit der hermeneutischen Tradition eintrete, die im Rahmen der LS als interpretationstheoretische Hermeneutik von der wissenschaftstheoretischen abgegrenzt wird (zu dieser Tradition ist m.E. auch Dilthey zu rechnen).

LS als Interpretationstheorie?

1.
Vorweg eine Anmerkung nicht zur Vorstellung der LS vom Aufbau und der Ausrichtung der Interpretationstheorie selbst, sondern von deren Stellung im Kontext der LW.
Als zentrale Elemente der historischen Komponente der LW werden von der LS einleuchtend die Bereiche der Edition, der Interpretation und der Literaturgeschichtsschreibung bestimmt. Mich interessiert nun das Verhältnis, das nach Einschätzung der LS zwischen diesen Bereichen besteht. Prinzipiell nimmt die LS an, daß ein strenges Voraussetzungsverhältnis vorliegt (die Edition ist Voraussetzung der Interpretation, die wiederum Voraussetzung der Literaturgeschichtsschreibung ist) (3042); praktisch gesteht die LS zu, daß die Bereiche einander wechselseitig beeinflussen, um methodisch wiederum von klaren Voraussetzungsverhältnissen auszugehen (z.B. Gattungs- oder Epochenkonstruktion auf der Grundlage einer Menge interpretierter Texte) (3088).
Ist das eine empirisch angemessene und systematisch sinnvolle Charakterisierung des Zusammenhangs zwischen den genannten Bestandteilen der historischen Komponente der LW? Sollte nicht methodisch versucht werden, der tatsächlichen Komplexität der Konstruktionen stärker Rechnung zu tragen, also etwa den Beobachtungen, daß Editionen Interpretation voraussetzen und Interpretationen unter Rekurs auf Wissen über Gattungen, Historie, etc. erfolgen? Ließe sich so nicht die Kluft zwischen einer sympathischen Metatheorie und einer problematischen Praxis schließen?


2.
Ich komme nun zur Interpretationstheorie der LS, zu der ich eine Reihe von Anmerkung recht unterschiedlicher Art machen möchte (Fragen, Einwände, Vorschläge, etc.).
Um die Grundidee der literatursemiotischen Theorie der Textanalyse/Interpretation in Erinnerung zu rufen, ein Zitat: "Die Theoriebildung der LS versuche ich über die Vorstellung eines Begriffsapparates einzuführen, der Möglichkeiten der Konstitutierung von (literarischen oder nicht-literarischen!) Texten beschreibt: also ein (quasi-poetologisches) System von möglichen Alternativen, zwischen denen im Prozeß der Textproduktion - bewußt oder nicht bewußt, aber notwendig - gewählt wird." (3029) (Oder terminologisch etwas pointierter: "Jeder Produzent eines sprachlichen Textes vollzieht […] im Prozeß der Äußerung einerseits Akte der Selektion aus Paradigmen und Akte der Kombination zu Syntagmen […]; er wählt Signifikanten (und damit Signifikationspotentiale) und verknüpft sie nach syntaktischen Regeln des Systems oder in Abweichung von ihnen zu Zeichenfolgen." [3049])
Texte werden von der LS verstanden als Ergebnis der Auswahl und Anordnung von Zeichen in einem historisch-kulturellen Kontext. Textanalyse/Interpretation i.S. der LS ist idealisierender und abstrahierender Nachvollzug des Produktions- bzw. Kompositionsprozesses von literarischen Werken.
Als Ausgangspunkt erscheint das einleuchtend - wie aber sieht es mit der konkreten Umsetzung dieser Idee aus?
Bei einer Betrachtung der methodischen/methodologischen Vorschläge der LS fällt zunächst eine gewisse Unausgewogenheit auf: Die LS stellt eine Vielzahl von Konzepten/Modellen zur Identifikation/Deskription von Textstrukturen bereit; sie ist aber im Hinblick auf die Verfahren, Regeln, etc., mit deren Hilfe von der einfachen zu höherstufigen Bedeutungsebenen von Texten gelangt, nicht sehr auskunftsfreudig - in dem Handbuch-Artikel werden "methodologische Regeln (= Interpretationsregeln)" bzw. "Folgerungs-, Abstraktions- und Klassenbildungsprozesse" (3089) erwähnt, aber nicht näher erläutert. Anders gesagt: Die LS liefert ein Instrumentarium für den Umgang mit (relativ) elementaren Zeichen; sie läßt mit Blick auf komplexe Zeichen wie Texte eine Reihe von Fragen offen (z.B. Bedeutungsaggregation/-synthese).
Daß die LS diese Frage offen läßt, scheint mir nicht nur eine methodische Nachlässigkeit zu sein; es hat offenbar nicht zuletzt grundsätzliche epistemologisch-programmatische Gründe. Ausgangspunkt der Überlegungen der LS ist die Bedeutungskonstitution durch den Text, nicht die Bedeutungsattribution durch den Interpreten. Die LS vertritt interpretationstheoretisch ein kontextualistisch erweitertes Code-Modell, das davon ausgeht, daß sich die Bedeutung eines Textes unter Bezugnahme auf die Zeichen- und Wissenssysteme seiner Entstehung eindeutig bestimmen läßt. Es ist mit anderen Worten ein Ansatz, dem die Annahme zugrundeliegt, daß die Deutung nicht-konventionell interpretierbarer Aspekte von Texten mit Hilfe von Kontexten abgewickelt werden kann und die Auswahl der relevanten Kontexte durch den Text selbst geregelt und gerechtfertigt wird (vgl. 3089).
Überschätzt ein solches Modell nicht den Text? Oder - anders gesagt - unterschätzt es nicht die Spielräume potentieller, aber auch historisch adäquater Bedeutungszuschreibungen an Texte? Denn: Offenbar kann ein Text, auch wenn er mit Hilfe der Konventionen und vor dem Hintergrund der Kontexte einer Kultur gelesen wird, Verschiedenes bedeuten. Anders gefragt: Geht die LS nicht von bestimmten uneingestandenen normativen Voraussetzung aus, die ausgewiesen werden müßten (und sich z.B. mit Hilfe des hypothetischen Intentionalismus leicht und einleuchtend explizieren ließen)? Und nimmt die LS nicht stillschweigend bestimmte hermeneutische bzw. kommunikative Fähigkeiten in Anspruch, die erläutert werden sollten (und z.B. inferenztheoretisch leicht und einleuchtend geklärt werden könnten)? Ließe sich so nicht auch die Funktionalisierung der LS als Heuristik vorbeugen?