Simone Winko  

Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: Erich Schmidt 2003


1. Einleitung: Literaturwissenschaftliche Probleme mit der ‘ratio­nalen’ Behandlung eines ‘irrationalen’ Phänomens

"Sollte es einmal zu einer Literaturwissenschaft kommen, so würde man vermutlich auch über die Gefühle in der Dichtung manches untersuchen und da vielleicht zu merkwürdigen Entdeckungen gelangen."[1]

Paul Ernst formulierte seine Annahme einer Folge-Beziehung zwischen der disziplinären Ausdifferenzierung einer Institution zur Erforschung von Literatur und der Etablierung eines besonderen Gegenstandsbereichs ‘Literatur und Gefühl’ zu Recht hypothetisch. Sie hat sich nicht bestätigt. Eine Literaturwissenschaft - vielleicht sogar eine, die Ernsts Ansprüchen genügen könnte - gibt es längst, "die Gefühle in der Dichtung" zählen aber keineswegs zu den bevorzugten und schon gar nicht zu den systematisch etablierten Forschungsgegenständen. Auch wenn das Thema in den letzten Jahren zu wissenschaftlichen Ehren gelangt ist, so gibt es doch nach wie vor eklatante theoretisch-methodische Defizite seiner Erforschung und deutliche Lücken in seiner historischen Rekonstruktion. Die Jahrhundertwende, in deren Zeitraum Ernst seine Vermutung äußert, gehört zu diesen emotionsgeschichtlich wenig erschlossenen Epochen. Mit der vorliegenden Arbeit wird versucht, Defizite einer literaturwissenschaftlichen Erforschung des komplexen Themas ‘Emotion’ sowohl im theoretisch-systematischen als auch im historischen Bereich auszugleichen.

1.1      Der Umgang mit Emotionen als Indikator disziplinärer Orientierungen: Thesen und Ziele des systematischen Teils der Arbeit

Eine der Funktionen von Literatur ist es, Emotionen zu vermitteln: sie zu ihrem Thema zu machen, auszudrücken und im Leser hervorzurufen. Von dieser Prämisse geht die vorliegende Arbeit aus. Bestritten werden dürfte sie kaum, allenfalls würden ihr Emotivisten widersprechen, die sie für nicht weit genug gefaßt hielten,[2] oder Kultursemiotiker, die sie prinzipieller formulieren würden.[3] Kontrovers allerdings sind die Konsequenzen, die eine solche Prämisse für die literaturwissenschaftliche Forschung haben kann. Sie sind vor allem abhängig von der methodischen Orientierung der Forscher und von wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen.

Schematisch lassen sich drei Phasen der literaturwissenschaftlichen Behandlung von Emotionen unterscheiden. Für in einem weiten Sinne ‘hermeneutische’ Interpreten waren Aussagen über die Gefühle, die ein Text ausdrückt, noch bis in die 60er Jahre unproblematisch. Diese Aussagen basierten, grob gesagt, auf der Annahme einer gemeinsamen menschlichen Erlebens-Grundlage, die es den Lesern ermöglicht, das im Text gestaltete Gefühl nachzuvollziehen. Förderlich für diesen Nachvollzug war die Experten-Kompetenz der Interpreten, spezifisch literarische, formale und inhaltliche Texteigenschaften wie auch ihr Zusammenspiel zu erkennen und so die Absicht des Autors zu verstehen. Eine These wie ‘C. F. Meyers Gedicht Eingelegte Ruder drückt eine müde Stimmung aus’[4] konnte in den 50er und 60er Jahren noch kraft Autorität des einfühlenden Interpreten in literaturwissenschaftlichem Kontext behauptet werden. Nur wenige Jahre später, unter neuen, verschärften Bedingungen für ‘Wissenschaftlichkeit’ wurden solche Aussagen jedoch ins Feuilleton verwiesen und galten als wissenschaftlich anrüchig. Die szientistische Wende der 70er Jahre ist ein Grund dafür, daß die Frage, welche Gefühle in literarischen Texten ausgedrückt werden, in der neueren Forschung nicht mehr gestellt wird. Emotionen wurden - und werden oft noch immer - als subjektive Phänomene aufgefaßt, die sich nicht objektivieren lassen und intersubjektiv nicht erfaßbar sind. Damit fielen sie zugleich unter das Irrationalismus-Verdikt, den wissenschaftsgeschichtlich begründeten Vorbehalt dagegen, ‘irrationale’ Konzepte argumentativ einzusetzen und zu funktionalisieren. Für solche terminologischen Strategien bot die nationalsozialistische Literaturwissenschaft abschreckende Beispiele; erinnert sei nur an die Karriere von Begriffen wie ‘Volksseele’ und die anti-rationalistische Argumentation in germanistischen Werken der Zeit.[5] In Folge dieser disziplinären Orientierungen verhielten sich die Vertreter der fortschrittlichen, aber auch der mainstream-Germanistik dem Gefühlsthema gegenüber weitgehend abstinent. Es wurde aus den strukturalistisch fundierten oder auch nur ‘inspirierten’ Analysen literarischer Formen ausgeschlossen, und zu den bevorzugten Kontexten historischer Rekonstruktionen - den philosophischen oder wissenschaftlichen Bezugstheorien und sozialhistorischen Fakten - wurden emotionsgeschichtliche Dokumente nicht gezählt.[6] In den Interpretationen ging es fast ausschließlich um den kognitiven Gehalt von Literatur. Literarische, aber auch poetologische Texte wurden dadurch um immer dieselbe Perspektive verkürzt. In dieser Situation war Georg Braungarts Erinnerung an die Tatsache, "[d]aß für die Rezeption von Kunst Emotionen und auch Körperreaktionen von essentieller Bedeutung sind, die nicht einfach in Erkenntnis überführt werden können",[7] durchaus berechtigt. Adressiert war diese Ermahnung an die Mehrheit deutschsprachiger Literaturwissenschaftler,[8] die einen Sachverhalt, der für Normalleser eine Selbstverständlichkeit darstellt,[9] konsequent ausblendete. Die empirische Forschung traf sie allerdings nicht, denn diese analysierte seit Ende der 80er Jahre Emotionen als Rezeptionsphänomen genauer. Nach vereinzelten Studien in den 80ern wurden Emotionen in den 90er Jahren dann auch in der nicht-empirischen Literaturwissenschaft zu einem zunehmend relevanten Gegenstand. Ihre Wiederentdeckung ging einher mit der Verbreitung diskursanalytischer Ansätze und der in ihrem Rahmen vollzogenen Aufwertung von Fragestellungen, die mit dem menschlichen Körper zu tun haben. Unter dieser Perspektive werden Emotionen als Thema literarischer und nicht-literarischer Texte seit neuerem häufiger untersucht. Dabei dienen Emotionstheorien oder -konzeptionen zur Kontextualisierung der interpretierten literarischen Texte, oder es wird ‘der Emotionsdiskurs’ über die Grenzen der Textsorten hinaus rekonstruiert.[10] Mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen erweitern dieses Forschungsspektrum. Aber nicht nur in der Literaturwissenschaft, auch in diversen anderen Disziplinen ist die Erforschung von Emotionen seit einigen Jahren stark aufgewertet worden, vor allem in der Psychologie, Philosophie und Soziologie.[11] Von einem auch in diesen Wissenschaften lange vernachlässigten Gegenstand avancierten emotionale Phänomene zu einem Modethema.

Die letzten beiden Phasen der grob skizzierten Entwicklung haben die gegenwärtige Forschungslage zum Thema ‘Emotionen und Literatur’ geprägt. Die wissenschaftshistorisch erklärlichen, aber nicht legitimierbaren Blindstellen in der Gegenstandswahrnehmung haben Defizite in der Analyse literarischer Texte wie auch in der Rekonstruktion von Kontexten hervorgebracht. Verfasser diskursgeschichtlicher Arbeiten nehmen sich vor allem der Kontexte an und haben das Repertoire der Bezugstexte um Alltags- und anthropologische Dokumente verschiedener Provenienz erweitert. Sie untersuchen jedoch in erster Linie die Thematisierung von Gefühl, während der Bereich sprachlich-rhetorischen Emotionsausdrucks weiterhin ausgespart bleibt. Literarische Texte werden in erster Linie als Belegspender für diskursgeschichtliche Thesen herangezogen, die sich ebenso, oft sogar besser, mit Hilfe nicht-literarischer Texte stützen ließen. Daß dasselbe Sprachmaterial aber darüber Hinausgehendes leistet, nämlich Stimmungen oder Gefühle vermittelt, wird nur selten berücksichtigt oder gar analysiert.

Hier setzt die vorliegende Arbeit an. In ihr werden Emotionen als textuelle Phänomene aufgefaßt, und das gesamte Spektrum ihrer literarischen Gestaltung soll untersucht werden, also nicht allein ihre Thematisierung, sondern auch ihr ‘Ausdruck’. Die intersubjektive Analyse dieses ‘Ausdrucks’ wird dabei einen der Schwerpunkte bilden. Damit wende ich mich gegen drei Thesen, die die gegen­wärtige, durchaus kontroverse Einschätzung und Behandlung des Themas kennzeichnen: (1) Nur als Rezeptionsphänomene sind Emotionen in Literatur wissenschaftlich erforschbar. (2) Literarisch gestaltete Emotionen lassen sich nicht wissenschaftlich analysieren, da es sich um subjektive Phänomene handelt, die nur intuitiv erfaßt werden können. (3) Emotionen sind diskursive Elemente, die in literarischen wie in nicht-literarischen Texten gleichermaßen nachweisbar sind. Meine Gegenthesen seien kurz erläutert.

(1’) Emotionen in Literatur sind nicht nur als Rezeptions-, sondern auch als Text­phänomene wissenschaftlich erforschbar. Nach einer verbreiteten, vor allem im empirischen Paradigma vertretenen Auffassung ist der Versuch, Emotionen als textuelle Phänomene zu analysieren, von vornherein ein zweifelhaftes Unternehmen. Das gilt für literarische und nicht-literarische Texte gleichermaßen. Auch im Alltagsverständnis werden Emotionen in erster Linie als Rezeptionsphänomene eingestuft. Texte, so lautet der entsprechende common sense-Ein­wand, können Emotionen in Lesern hervorrufen, nicht aber solche enthalten. Dieser Vorbehalt trifft sich mit Einwänden konstruktivistischer Ansätze, in denen Texte als Stimulus einer Rezeptionshandlung angesehen werden. So bezweifelt Henrike Alfes in ihrer materialreichen Monographie Literatur und Gefühl, daß emotionale Textverarbeitung als Zusammenspiel emotionstragender Textmerkmale und emotionaler Verstehensprozesse zu konzipieren sei.[12] Sie fragt, wo denn die als Stimulus wirkende ‘Text-Emotion’ bleibe, "wenn sie nicht von irgend jemandem ‘als solche’ erfahren würde", wer entscheiden solle, "woran die emotionalen Text-Qualitäten festzumachen wären und/oder wer sich dahinein adäquater einfühlen könnte".[13] Diese Fragen treffen gleich zwei wichtige Probleme, mit denen eine textbezogene Untersuchung von Emotionen sich auseinanderzusetzen hat: das Problem des geeigneten Analyseverfahrens und das der ‘emotionstragenden’ Textstrukturen; und sie demonstrieren ein weiteres Problem unfreiwillig: die Schwierigkeit einer genauen Begriffsverwendung.

Alfes’ Fragenkatalog setzt einen Begriff von ‘Emotion’ als psychophysisches Phänomen voraus. Da sie die emotionale Textverarbeitung untersucht, ist dieser Begriff für sie zweckmäßig. Wenig sinnvoll ist es allerdings, denselben Begriff auf Textstrukturen anzuwenden. Ein psychophysisches Phänomen in Texten finden zu wollen, wäre in der Tat abwegig, wird allerdings auch gar nicht angestrebt. Vielmehr führt eine andere Überlegung zur Aufgabenstellung einer textbezogenen Emotionsanalyse: Unproblematisch dürfte die Annahme sein, daß es sprachliche Äußerungen gibt, die mit höherer Wahrscheinlichkeit als emotional aufgefaßt werden als andere. Woran das liegt, läßt sich nur erklären, wenn man den sprachlichen Merkmalen der Äußerungen eine differenzierende Funktion zuschreibt. Merkmalen der Äußerungen eine differenzierende Funktion zuschreibt. Dasselbe gilt für komplexere Ausdrucksformen mit komplexeren Merkmalsbündeln, etwa Bilder, Bauwerke oder andere Artefakte wie eben literarische Texte. Soziologen, die Genese und Funktionen von Gefühl unter gesellschaftlicher Perspektive untersuchen, gehen davon aus, daß Emotionen keine nur subjektiven Phänomene darstellen, sondern kulturell geprägt sind und sich in Sprache und Objekten intersubjektiv manifestieren können.[14] An solchen kulturellen Manifestationsformen von Emotionen sind z.B. Historiker und Linguisten ebenfalls in erster Linie interessiert. Auch in ihren Studien deckt die Auffassung von Emotionen als psychophysischen Phänomenen nur eine Komponente des Begriffs ab; im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht deren kulturell geprägte, intersubjektive Ausdrucksform. Um diese Ausdrucksformen geht es auch in der vorliegenden Arbeit.

(2’) Literarisch gestaltete Emotionen lassen sich ‘wissenschaftlich fundiert’ analysieren, da es sich um keine subjektiven Phänomene handelt, die nur intuitiv erfaßt werden könnten. Mit der Betonung der intersubjektiven Komponente von Emotionen ist schon ein erster Einwand gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit formuliert: Emotionen können zwar als subjektiver ‘input’ des Autors in den literarischen Text betrachtet werden; diese Perspektive soll im folgenden aber nicht eingenommen werden. Emotionen werden vielmehr als ‘kodiert’ aufgefaßt, und die Art und Weise, wie sie in literarischen Texten thematisiert und präsentiert werden, partizipiert an solchen kulturellen Kodes und formt sie zugleich mit.

Bleibt die Skepsis gegenüber einem intersubjektivierbaren Interpretationsverfahren. Sie kann unterschiedlich grundsätzlich formuliert sein. In ihrer emotivistischen Variante besagt sie, daß Aussagen über den emotionalen Gehalt literarischer Texte deswegen nicht wissenschaftsfähig seien, weil sie lediglich die Wirkung der Texte auf die Interpreten formulieren, die von Subjekt zu Subjekt variieren: Was der eine Interpret in Meyers Gedicht als müde Stimmung empfindet, mag für einen anderen eher Ausdruck von Trauer oder Wehmut sein. Diesem Einwand sei hier zweierlei entgegengehalten: Zum einen ist das Spektrum an Wirkungsmöglichkeiten literarischer Texte tatsächlich nicht so breit und individualistisch ausdifferenziert, wie angenommen wird; dies haben empirische Untersuchungen gezeigt.[15] Wenn es typisierte emotionale Reaktionen auf literarische Texte gibt, so sollten sie nicht einfach aus dem literaturwissenschaftlichen Diskurs ausgeblendet, sondern genauer untersucht werden - allerdings auf der Objektebene. Zum anderen käme es einer Verabsolutierung des "affective fallacy"[16] gleich, wenn man jede Aussage über die in einem Text dargestellten oder artikulierten Emotionen als subjektiven Ausdruck der Wirkung dieses Textes auf einen Leser auffassen wollte. Zumindest ist nicht ohne weitere Begründung einzusehen, warum es im Falle emotionsbezogener Aussagen nicht ein ebensolches fundamentum in re geben sollte wie bei Aussagen über kognitive Gehalte literarischer Texte.[17] Worin dieses liegt und wie es zu identifizieren ist, bleibt allerdings zu klären. Dabei kann es nicht um eine Neuauflage der Kontroverse zwischen emotivistischen und kognitivistischen Bedeutungstheorien gehen. Weder führt die Frage weiter, ob die Ausdrücke und Aussagen in literarischen Texten kognitive oder emotive Bedeutung haben, noch ist das damit verbundene Schema ‘objektiv-subjektiv’ so erschöpfend, daß sich Funktionen und Manifestationsformen von Emotionen in Literatur mit ihm erfassen ließen. Es ist sinnvoller, statt eines ‘Entweder-Oder’ ein komplexes Zusammenspiel kognitiver und emotionaler Faktoren anzunehmen,[18] und es ist erforderlich, zunächst die Kategorien selbst, vor allem den Begriff ‘Emotion’ zu klären, um weder Scheinprobleme zu behandeln noch sich mit einem Scheinkonsens zufriedenzugeben.

Berufen sich Skeptiker dagegen auf die Phase literaturwissenschaftlicher Forschung, in der Aussagen über den emotionalen Gehalt literarischer Texte noch an der Tagesordnung waren, so erheben sie den Vorwurf mangelnder wissenschaftlicher Fundierung zu Recht. In literarischen Texten ausgedrückte Emotionen wurden, wie bereits erwähnt, zumeist ohne eingeführte Begrifflichkeit beschrieben und intuitiv erschlossen, indem die gefühlsmäßige Wirkung des Textes auf die eigene Person verallgemeinert wurde. Dieses ‘einfühlende’ und damit nicht kontrollierbare Verfahren, Emotionen als textuelle Größen zu erfassen, trifft der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit in der Tat; jedoch stellt er kein grundsätzliches Verdikt gegen die Zielsetzung als solche dar. Eines der Haupt­anliegen dieser Arbeit wird sein, ein Instrumentarium vorzuschlagen, das die Beschreibung und Analyse von Emotionen transparenter und damit auch besser prüfbar macht, und auf diese Weise die Skepsis gegenüber einem methodisch gesicherten Verfahren zu widerlegen. Daß dabei disziplinär geltende, also ‘weiche’ Wissenschaftsstandards zugrundezulegen sind, dürfte mittlerweile selbstverständlich sein.[19]

(3’) Die These, Emotionen seien allein als ‘diskursive Elemente’ in literarischen wie nicht-literarischen Texten aufzufassen, reduziert das Phänomen unnötig. Im Rahmen diskursanalytischer und mentalitätsgeschichtlicher Ansätze werden Emotionen nicht als subjektive Phänomene, sondern dezidiert als kulturell geprägte Konstruktionen auffaßt. Wenn ich mich trotz dieser Übereinstimmung in der Untersuchungsperspektive diesen Richtungen nicht zuordne, so hat dies vor allem zwei Gründe. Zum einen betrachten ihre Vertreter literarische Texte in erster Linie als Indikatoren für das kulturelle Wissen einer Zeit, das unabhängig von seiner Präsentation auch in anderen Kulturprodukten nachweisbar ist. Aus dieser Einschätzung folgt, daß in den Studien die expliziten und impliziten Thematisierungen von ‘Gefühl’ fokussiert, die verschiedenen, spezifisch literarischen Manifestationsmöglichkeiten von Emotionen dagegen ausgeblendet werden. Zum anderen lassen die Arbeiten oftmals terminologische und verfahrenstechnische Präzision vermissen. Über Beschaffenheit und Funktionen von Emotionen ist noch wenig ausgesagt, wenn man sie als diskursive Elemente bezeichnet. Vielmehr verführt diese Bezeichnung dazu, Vergleichbarkeiten vorauszusetzen, die erst nachzuweisen wären. So scheint der Schluß auf eine gemeinsame, kulturelle Einheit unproblematisch zu sein, wenn sich in Texten verschiedener Diskurse gemeinsame Thematisierungen von Emotionen nachweisen lassen. Als was diese kulturelle Einheit aber aufzufassen ist, wie ihr Zusammenhang mit formalen Texteigenschaften konzipiert werden kann und wie man von der einen auf die anderen schließen soll, bleibt ungeklärt. Darüber hinaus setze ich der These eines ‘textuellen Universalismus’ die Annahme eines extratextuellen Handlungsbe­reichs entgegen.


Diese ersten, knappen Überlegungen machen bereits deutlich, daß zunächst der Objektbereich einer emotionsbezogenen Untersuchung genau abzugrenzen ist. Zu beantworten sind zum einen terminologische Fragen, vor allem die nach Begriffen wie ‘Emotion’, ‘Gefühl’ und ‘Stimmung’ und ihrem Verhältnis zueinander, um genauer angeben zu können, was eigentlich unter der Bezeichnung ‘in einem Text ausgedrückte Emotionen’ zu verstehen ist. Zum anderen ist zu klären, unter welchen Perspektiven Emotionen im Umgang mit Literatur eine Rolle spielen können und welche dieser Möglichkeiten hier einbezogen werden sollen. Es bietet sich an, letzteres mit einem detaillierteren, systematischen Forschungsüberblick zu kombinieren (Kapitel 2), um auf diese Weise das eigene Unternehmen dem Spektrum literaturwissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema zuzuordnen. Da Literaturwissenschaftler, die über Emotionen sprechen, immer auch Annahmen über deren Beschaffenheit, Genese, Funktionen und Ausdrucks­weisen machen und da sie diese Annahmen nicht mit den Begriffen und Methoden ihrer eigenen Disziplin begründen können, sind die erforderlichen terminologischen Klärungen interdisziplinär anzugehen. Um die Begriffe zu bestimmen und Argumente für ihre fundierte Verwendung zu erhalten, müssen Ergebnisse anderer Wissenschaften berücksichtigt werden, die sich ebenfalls mit Emotionen befassen und an deren Perspektiven auf das Phänomen die Literaturwissenschaft - meist implizit - partizipiert: Psychologie, Soziologie und Kulturtheorie sowie Linguistik (Kapitel 3). Auf dieser Basis und mit gegenstandsspezifischen Modifikationen läßt sich das anvisierte emotionsbezogene Beschreibungs- und Analyseverfahren für literarische Texte erarbeiten. Da es in den historischen Rekonstruktionen um Lyrik geht, wird das Verfahren auf die Analyse von Gedichten ausgerichtet (Kapitel 4). Es stellt ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe Textmerkmale in Gedichten daraufhin untersucht werden können, welche Funktionen sie für die Gestaltung von Emotionen haben. Damit wird kein gänzlich neues, sondern ein erweitertes Frageraster für die Beschreibung, Analyse und Interpretation lyrischer Texte vorgeschlagen.

1.2 ‘Modern’ versus ‘emotional’? Die ‘Modernitätsthese’ als Dogma der Lyrikgeschichte und ihre Folgen für die Anlage der historischen Teile dieser Arbeit

Eines der verbreitetsten Kriterien, mit dem Lyrik von anderen Gattungen abgegrenzt wird, ist bekanntlich das der Subjektivität, die oftmals eng mit Emotionalität gekoppelt ist. Am Muster der Erlebnislyrik gewonnene Bestimmungen wie die, Lyrik sei unmittelbare Aussprache eines Subjekts, sei Ausdruck seiner Stimmung, prägen noch immer die Auffassung der Gattung.[20] Zu Recht sind solche Gattungsdefinitionen kritisiert worden: Sie bestimmen ‘das Lyrische’ mit Hilfe von Kriterien, die anhand historischer Beispielfälle gewonnen, aber als ahistorische Kategorien behandelt werden.[21] In der neueren Lyriktheorie hat diese Kritik zwei Stoßrichtungen. Einerseits richtet sie sich gegen den Anspruch einer ahistorischen Wesensbestimmung ‘des Lyrischen’ und Lyrik generell; andererseits wirft sie den traditionellen Lyrikdefinitionen vor, dem historischen Material nicht gerecht zu werden: Diese Definitionen seien nicht in der Lage, mittelalterliche und Barocklyrik wie auch, und dies wird besonders häufig angeführt, moderne Gedichte angemessen zu erfassen. Kategorien wie ‘Stimmung’ und ‘Erlebnis’, so das Argument, seien historisch berechtigt gewesen, insofern sich mit ihrer Hilfe die Besonderheiten des seit dem Ende des 18. Jahrhunderts produzierten neuen Lyriktypus erfassen ließen; sie scheiterten aber an der modernen Lyrik, die andere Merkmale aufweise und dementsprechend auch anders zu beschreiben sei. Charakteristisch für diese Position sind Behauptungen wie die Hugo Friedrichs, moderne Lyrik zeichne sich vor allem durch Reflexion aus, sei ein "kühles Operieren",[22] und Dieter Lampings Aussage, daß "traditionelle Kategorien wie ‘Stimmung’, ‘Erlebnis’ oder ‘Innerlichkeit’" vor dem Phänomen der modernen Lyrik offenbar "versagen".[23] Nach dieser ‘Modernitätsthese’ hat die Gestaltung von Emotionen in modernen lyrischen Texten keinen Platz mehr. Die These ist weit verbreitet und prägt den lyrikgeschichtlichen Blick auf die Gedichte der Jahrhundertwende. Ihr entgegen steht die ‘Innerlichkeitsthese’, die meist mit Bezug auf die Literatur um 1900 generell formuliert wird. Sie besagt, daß der Rückzug auf das ‘eigene Ich’, auf Phantasie- und Gegenwelten, die einerseits der Realität, andererseits dem ‘bürgerlichen Kunstideal’ entgegengesetzt sind, charakteristisch für die Literatur der Zeit,[24] zumindest für einige ihrer sezessionistischen Richtungen sei. Attribute des ‘Inneren’, dessen Erkundung vor allem symbolistischen Autoren zugeschrieben wird, sind ‘Seele’, ‘subjektive Wahrnehmung’ und ‘Gefühl’. In seiner Erläuterung der ‘modernen Metapher’ etwa führt Hartmut Müller nicht nur die Merkmale der Verselbständigung und weitgehenden ‘Entreferentialisierung’ dieser Figur an, sondern bestimmt darüber hinaus ihre Funktion wie folgt: Sie stelle die bildliche Entsprechung "für ein Gefühl oder eine Erkenntnis" eines Dichters dar und solle zugleich im Leser "ein ähnliches Gefühl, eine ähnliche Vorstellung" hervorrufen.[25] Damit scheint moderner Lyrik eine besondere Art der Emotionalität zugeschrieben zu werden: Der moderne Autor will neben Gedanken auch Gefühle bildlich kommunizieren.

Innerlichkeitsthese und Modernitätsthese widersprechen einander: Trifft die erste zu, dann ist die Frage nach den vermittelten Emotionen in einem Gedicht auch für moderne Gedichte sinnvoll; ist die letzte korrekt, geht die Frage an zentralen Merkmalen dieser Gedichte vorbei. Während der Innerlichkeitsthese der Sache nach zuzustimmen ist, sie jedoch mit einem unpräzisen Begriff arbeitet, verfehlt die Modernitätsthese ‘die Texte’, die poetologischen wie die lyrischen. Zudem krankt auch sie an vagen Begriffen und entsprechend unklaren Vorstellungen von dem zu expedierenden Phänomen. Da mein Einspruch gegen die ‘Modernitätsthese’ die historischen Untersuchungen dieser Arbeit leitet und deren Aufbau mit begründet, muß diese These näher erläutert werden. Zu fragen ist: (1) Was wird unter der Bezeichnung ‘moderne Lyrik’ verstanden? (2) Welcher Voraussetzungen bedient sich und zu welchen Konsequenzen führt die ‘Modernitätsthese’? Der Aufbau der historischen Teile und die Korpusbildung (3) ergeben sich auch aus den Antworten auf diese Fragen.

(1) Was ist ‘moderne Lyrik? ‘Die Moderne’ wird heute als Epoche oder Zeitabschnitt bestimmt, der durch das komplexe Zusammenspiel einander widerstrebender und entgegenwirkender Entwicklungen gekennzeichnet ist.[26] Für die Zeit um 1900 werden als bestimmende ökonomische und soziale Faktoren die Wirtschaftsexpansion im deutschen Kaiserreich genannt, der Industrialisierungsschub, die fortschreitende funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die zunehmende Technisierung, die Verstädterung und die Entstehung einer Massenkultur mit ihren jeweils mentalitätsprägenden Folgen, vor allem der gesteigerten Rationalisierung und Individualisierung. Moderne Autoren setzen sich zustimmend oder ablehnend mit den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen auseinander, und ihre Texte dokumentieren in ihrer Vielfältigkeit zugleich die moderne Differenzierung. Tendiert eine solche - hier nur sehr verkürzt wiedergegebene - sozial- oder kulturwissenschaftlich argumentierende Auffassung von ‘Moderne’ zu einer komplexen, Gegensätze berücksichtigenden Sichtweise auf das Phänomen ‘moderne Literatur’, so sieht die Lage für einen Teilbereich dieser Literatur, die moderne Lyrik, anders aus. In der lyrikgeschichtlichen Forschung dominieren ein meist implizit normativer Modernitätsbegriff und seine schematische Anwendung auf deutschsprachige Texte der Jahrhundertwende.

‘Moderne Lyrik’ wird unter zwei Perspektiven und nach zwei Argumentationsmustern bestimmt, und entsprechend variiert die Klassifikation von Gedichten bzw. Autoren als modern, nicht mehr oder noch nicht modern. Paradigmatisch für den strukturellen Ansatz steht die einflußreiche Monographie Hugo Friedrichs. Neben seinem kunst-metaphysischen Kriterium[27] ist es vor allem ein Set sprachlicher und formaler Kriterien, das Friedrich einsetzt, um Texte und Autoren als ‘modern’ ausweisen zu können. Diesem Ansatz entspricht auch weitgehend Lampings Position, moderne Lyrik als gattungsspezifisches, europäisches Phänomen mit eigenem Beginn und besonderem, von Lyrikwerken geprägtem Verlauf zu bestimmen.[28] Unter diesem Aspekt beginnt die moderne Lyrik im deutschen Sprachraum, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erst mit Expressionisten wie Trakl und Benn, während die Lyrik um 1900 noch als Ausdruck eines "vielhundertjährigen lyrischen Stils"[29] gilt.

Der historische Ansatz, paradigmatisch in Literaturgeschichten angewendet, orientiert sich an Programmatiken und Selbstaussagen der Autoren und ist an klaren Unterschieden zur Lyrik vorhergehender Epochen sowie an chronologisch fixierbaren Grenzen interessiert. Das von Eugen Wolff eingeführte Gruppenattribut ‘modern’, mit dem die Naturalisten sich programmatisch abgrenzten und das von Hermann Bahr auf die anti-naturalistischen Richtungen ausgeweitet wurde, rechtfertigt hier die literarhistorische Zuordnung.[30] Unter dieser Perspektive beginnt - mit Ausnahme einiger ‘Vorläufer’ - die deutschsprachige moderne Lyrik in der Regel um die Jahrhundertwende,[31] ihre hauptsächlich genannten Vertreter sind Holz, George, Hofmannsthal und Rilke.

Auch im historischen Ansatz sind Kriterien erarbeitet worden, um die ‘moderne deutschsprachige Lyrik’ zu bestimmen. Die Literarhistoriker übernehmen die sprachlich-formalen Merkmale aus dem strukturellen Ansatz, ergänzen sie aber um einen besonderen Typus inhaltlicher Kriterien.[32] Zu den formalen Kriterien wird bekanntlich die Tendenz ‘moderner’ Gedichte zur Auflösung her­kömmlicher Vers- und Reimbindungen gezählt, zu den sprachlichen Eigenschaften vor allem ihre Konzentration auf das Medium Sprache, die Dominanz der sprachlichen Form über vermittelte Inhalte. Genannt werden darüber hinaus die Auflösung logischer Sinnzusammenhänge und die Dissoziation raum-zeitlich fixierter Sprechsituationen, die mit dem tendenziellen Verschwinden der traditionellen Ich-Bezüge einhergehen; Stichworte sind ‘Diskontinuität’ und ‘Simultanität’, ‘Paradoxie’ und ‘Verfremdung’, ‘Polyperspektivik’,[33] ‘Amimetismus’ und ‘Ich-‘ bzw. ‘Identitätsverlust’. Das inhaltliche Kriterien-Set sichert den Zeitbezug: Moderne Autoren bzw. ihre Texte zeichnen sich durch besondere weltanschauliche[34] Orientierungen aus, die ihnen im Rahmen geistesgeschichtlicher oder auch ideologiekritischer Rekonstruktionen zugeschrieben werden.[35] In erster Linie werden erkenntnistheoretische Prämissen angeführt, mit deren Hilfe sich moderne von traditioneller Lyrik unterscheiden läßt, etwa die Kritik an idealistischen Subjektivitätskonzepten oder, damit nicht unbedingt kompatibel, die Ablösung eines ‘absoluten’ - sei es theologisch oder philosophisch fundierten - Wahrheitskriteriums durch ein subjektiviertes Konzept ‘erlebter Wahrheit’, das einen Wandel im ‘Weltbild’ anzeigt.[36] Um die Wandlung zur modernen Literatur zu erklären, wird auf die historische Modernitätsdebatte Bezug genommen,[37] es werden geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Faktoren angeführt[38] oder wissenschaftsinterne Entwicklungen bzw. ihre Auswirkungen auf die Alltagskultur.[39] Beide Kriterien-Typen gelten in der Forschung, trotz Abweichungen im einzelnen, als ‘gesichert’, um moderne von vormoderner oder traditioneller Lyrik abzusetzen: Da einige der angeführten Merkmale auf einige lyrische Texte der Jahrhundertwende zutreffen, fällt das historische Datum der Selbstbezeichnung mit dem Auftreten spezifisch ‘moderner’ Textmerkmale zusammen.

Diese Bestimmung ‘moderner Lyrik’ bedient sich des Musters der ‘Familienähnlichkeit’ verschiedener Phänomene.[40] Sie läßt mindestens zwei Probleme ungelöst: Da sie Programmatiken und strukturelle Merkmale miteinander verbindet, handelt sie sich die Schwierigkeit ein, daß die Autoren, die sich als modern bezeichnen, nicht immer identisch sind mit jenen, deren Texte einige der Kriterien erfüllen. Offen bleibt auch das Quantitätsproblem: Wieviele der genannten Merkmale muß ein Gedicht aufweisen, um als ‘modern’ gelten zu können? Wieviele solcher Gedichte muß ein Autor verfaßt haben, um als ‘Moderner’ anerkannt zu werden? Beachtet man allerdings die Tatsache, daß klassifikatorische Begriffe, zu denen auch ‘modern’ gehört, in der Literaturwissenschaft quasi-disjunkt eingesetzt werden,[41] so erweisen sich solche Fragen als dem Standard der Wissenschaft unangemessen: Ein mehr oder minder großer Vagheitsbereich wird ebenso in Kauf genommen wie ein mehr oder minder umfangreiches Terrain nicht erfaßbarer Texte. Argumentationshalber werde ich diese Bestimmung von moderner Lyrik im folgenden übernehmen, plädiere jedoch dafür, den Begriff tatsächlich nur als klassifikatorischen einzusetzen, nicht aber mit dem literarhistorischen Anspruch, die moderne Lyrik damit erschöpfend beschrieben oder gar die um 1900 produzierte Lyrik mit ihm erfaßt zu haben.

(2) Voraussetzungen und Konsequenzen der Modernitätsthese. Die These, moderne Lyrik verzichte auf die Gestaltung von Stimmungen und Emotionen, ist mit den Merkmalen, mit deren Hilfe ‘moderne Lyrik’ bestimmt wird, leicht zu vereinbaren.[42] So unterstützt die These eine Annahme, die aus den genannten formalen Kriterien ableitbar ist, daß nämlich das prototypische moderne Gedicht ein heterodiegetisch distanziertes ohne erkennbare Fokalisierung sei, das sprachspielerisch sein Medium, allenfalls noch seine Entstehungsbedingungen thematisiert. Anders gesagt: Wenn das Ich dissoziiert, kann es auch keine Emotionen mehr ausdrücken, je nach Bestimmung auch nicht mehr wahrnehmen; wenn das Interesse an der Form und an erkenntnistheoretischen Prozessen dominiert, werden alte Inhalte wie die Emotionen des erlebenden Ichs obsolet. Darüber hinaus unterstützt die These indirekt die Legitimität des weltanschaulichen Kriterien-Sets, in dem ausschließlich kognitive Faktoren als maßgeblich für moderne Lyrik angeführt werden. Dennoch ist die Modernitätsthese aus zwei Gründen höchst problematisch: Sie steht im Widerspruch mit zahlreichen Selbstaussagen der Lyriker um 1900 (a), und sie partizipiert an einem Argumentationsmuster, das zu Simplifizierungen verführt: Die Annahme, daß es zwischen traditionellen und modernen Gedichten einen radikalen Bruch gebe, legt reduktive Schemata der Textwahrnehmung und -deutung nahe und schränkt den Objektbereich moderner Lyrik stark ein (b).

(a) Poetologische Aussagen. Nimmt man an, daß moderne Lyrik in Deutschland um 1900 entsteht, und betrachtet man zugleich poetologische Aussagen der Dichter, die als modern gelten, dann läßt sich die Modernitätsthese nicht aufrechterhalten: In kaum einer poetologischen Konzeption fehlt die Aussage, daß es in der eigenen, neuen oder eben modernen Lyrik um Stimmungen, Empfindungen, um den Ausdruck von Gefühlen gehe, und zwar auch oder ausschließlich. Dies wird in Kapitel 7.1 ausführlich belegt werden. Der Ausdruck von Emotionen wird sogar zum distinktiven Merkmal gegenüber anderer Lyrik - sei es vorangegangener oder zeitgenössischer, gegen die man sich abgrenzt. Schon die Konzentration solcher Argumentationsstrategien spricht dafür, Stimmungen und Gefühlen einen besonderen Stellenwert sowohl für das Verfassen als auch für das Lesen moderner Lyrik zuzuerkennen, und sei es erst einmal heuristisch. Zwar ist es nicht nur nicht erforderlich, sondern sogar methodisch unsinnig, jede programmatische poetologische Aussage zu berücksichtigen, wenn man Merkmale einer Gattung oder, wie im Falle moderner Lyrik, eines epochenspezifischen Teilbereichs einer Gattung bestimmen will. Diese Aussagen aber gar nicht zu beachten und damit einem Anliegen, das in den meisten zeitgenössischen Aussagen über Lyrik für wichtig erachtet wird, die Relevanz abzusprechen, erhöht nicht gerade die Plausibilität des Ansatzes. Der Verdacht liegt nahe, daß auch die Analyse der modernen Gedichte, auf die sich die Modernitätsthese dann alleine stützen muß, etwas übersieht, weil sie es gar nicht in ihre Suchoptik einbeziehen kann: die emotionalen Komponenten moderner Lyrik. Dieser Verdacht selektiver Wahrnehmung liegt auch deswegen nahe, weil es auffällig ist, daß die formalen Merkmale, die zur Bestimmung moderner Lyrik eingesetzt werden, zu den Eigenschaften zählen, die in Abweichungspoetiken als spezifisch ‘poetisch’ gelten, nämlich sprachliche und formale Abweichungen von der Alltagssprache. Das gilt z.B. für ‘Diskontinuität’, ‘Polyperspektivik’, ‘Amimetismus’ und, besonders deutlich, für ‘Verfremdung’.[43] Moderne Lyrik wäre dann idealtypische Literatur im Sinne eines formal verstandenen autonomieästhetischen Literaturbegriffs.[44] Daß diese Klassifikation einer Wertung näher kommt als einer Beschreibung, dürfte deutlich sein.

Die Modernitätsthese belegt damit auf unfreiwillige Weise die von Lamping zu Recht kritisierte Diskrepanz zwischen Lyriktheorie und Lyrikgeschichte.[45] In der neueren Lyriktheorie wird nach einer Gattungsbestimmung gesucht, die sowohl die ontologisierenden Prämissen der älteren Theorien als auch deren Strategie vermeidet, eine historische Erscheinungsform der Lyrik zu einem Wesensmerkmal des Lyrischen zu übersteigern. Es geht der neueren Theorie also auch um einen deutlichen Unterschied zur älteren Debatte. Wenn sie nun betont, deren zentrale emotionsbezogene Kategorien seien nur historisch gültig und der modernen Lyrik nicht mehr angemessen, dabei aber zugleich programmatischen Aussagen moderner Lyriker widerspricht, dann muß auch sie sich den Vorwurf gefallen lassen, primär lyriktheoretisch zu argumentieren: Nur zum Teil, und zwar in ‘ausgewählten Fällen’, berührt sie sich mit lyrikgeschichtlichen Daten.

(b) Die These vom Bruch mit der Vergangenheit. Vertreter der Modernitätsthese nehmen an, daß traditionelle Gedichte nach dem Muster von Erlebnislyrik produziert werden, der Ausdruck von Emotionen in ihnen eine wichtige Rolle spielt und daß dies in modernen Gedichten nicht mehr der Fall ist. Sie argumentieren nach dem Muster ‘Moderne bricht mit Tradition’, wenn sie diesen Bruch auch als unterschiedlich radikal einschätzen.[46] Die Abkehr von der traditionell orientierten Lyrik, sei sie nun Gründerzeit-Lyrik, repräsentative oder "stilkonservative"[47] Lyrik genannt, wird als Merkmal eingesetzt, um die heterogenen Tendenzen der modernen Lyrik um 1900 zu vereinen. Dieses Muster zur Bestimmung von ‘Moderne’ ist oft diskutiert und auch kritisiert worden. Gerade in neuerer Zeit sind ihm Ansätze entgegengehalten worden, die die Kontinuitäten zwischen Tradition und Moderne betonen.[48] Sie haben einen höheren Erklärungswert, weil viele historische Entwicklungen plausibler über Kontinuitäten und Modifikationen als über Umbrüche und Neuerungen rekonstruierbar sind[49] und weil mit dem innovations­orientierten Muster nur wenige Texte und auch nur wenige Merkmale von Texten erfaßt werden können: Schon aus verstehenstheoretischen Gründen ist es wahrscheinlich, daß immer nur einige sprachliche und thematische Elemente literarischer Texte variiert werden, während die Mehrzahl konstant bleibt. Die Annahme liegt nahe, daß es sich bei der lyrischen Gestaltung von Emotionen um solche Kontinuitäten handelt, die nicht in den Blick innovationsorientierter Literarhistoriker kommen. Meine Gegenthese lautet, daß Emotionen auch in modernen Gedichten vermittelt werden, und zwar nicht nur, weil dies in jeder Literatur in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße der Fall ist, sondern weil die Gestaltung von Emotionen in modernen Gedichten eine distinktive Funktion zu erfüllen hat. Ob und in welchem Sinne sich die ‘moderne’ Thematisierung und Präsentation von Emotionen von den entsprechenden Verfahren in traditionellen Gedichten der Jahrhundertwende unterscheidet, ist eine Frage, die in dieser Arbeit exemplarisch zu beantworten ist.

Eine bekannte Folge innovationsorientierter Literaturgeschichte liegt darin, daß sie nur einen kleinen Ausschnitt der literarischen Texte erfaßt, die zu einer Zeit geschrieben und gelesen worden sind. Für die Lyrik der Jahrhundertwende führt dies zu einem besonders krassen Mißverhältnis: Einem umfangreichen, konturlosen Korpus traditioneller Texte, die Formen des 19. Jahrhunderts weiterführen und weitgehend unbeachtet bleiben, steht ein sehr kleines Korpus formal moderner Texte gegenüber, die immer wieder interpretiert werden; dazwischen steht eine ebenfalls kleine Gruppe formal traditioneller Gedichte, die als typisch für eine der weltanschaulichen Sezessionen der Zeit angesehen werden und in diesem Sinne als modern gelten. Prospektiv lyrikgeschichtlich gesehen expandiert das traditionelle Korpus in dem Maße, in dem ‘vormoderne’ Formen weitergeführt werden, während das moderne Korpus chronologisch begrenzt ist - zeitlich nach hinten durch die traditionellen, nach vorne durch die ‘postmodernen’ Texte.[50] Es expandiert nur in dem Maße, in dem es Literaturwissenschaftlern gelingt, bestimmte formale Strukturen oder erkenntnistheoretische, ontologische etc. Prämissen an zeitlich früheren Texten zu belegen, was immer einer Aufwertung dieser frühen Texte gleichkommt. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist nicht nur ihr Schwanken zwischen einer chronologischen und einer normativen Begriffsverwendung, sondern auch, daß sie keine Kriterien zur Strukturierung des großen Korpus traditioneller lyrischer Texte bietet. Die Klassifikationen ‘traditionell’, ‘epigonal’, ‘repräsentativ’ etc. erfassen nur, unspezifisch ge­nug, das Korpus als ganzes. Vergleicht man aber z.B. ein Naturgedicht von Eichendorff oder Rückert mit themengleichen Texten ‘Nicht-Moderner’ wie Falke, Miegel oder Jacobowski, so zeigen sich Unterschiede, die es unplausibel machen, hier nicht weiter zu differenzieren.

(3) Folgerungen für historische Untersuchungen. Die Defizite in der historischen Erfassung literarischer und poetologischer Texte, zu denen die Modernitätsthese führt, überschneiden sich mit den Defiziten, die oben als Folge einer langen literaturwissenschaftlichen Abstinenz vom Emotionsthema konstatiert wurden. Diese Situation hat Konsequenzen für die Anlage der historischen Untersuchungen dieser Arbeit.

Um die ‘blinden Flecken’ in der Wahrnehmung der zeitgenössischen Poetologien auszugleichen, sind im ersten historischen Teil die Thematisierungen des Konzepts ‘Emotion’ in lyrik-programmatischen und poetologischen Texten der vorletzten Jahrhundertwende zu analysieren. Zu fragen ist, was unter den Begriffen ‘Empfindung’, ‘Gefühl’, ‘Stimmung’, die in diesen Texten vorkommen, verstanden wird und welche Funktionen dem Ausdruck von Emotionen im Gedicht zugeschrieben werden (Kapitel 7). Da um 1900 emotionale Phänomene in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens thematisiert wurden, sind die poetologischen Äußerungen zu kontextualisieren. Als Bezugspunkte werden das lexikalisch faßbare Alltagswissen und Beispiele wissenschaftlicher Verwendungsweisen des Gefühlsbegriffs gewählt, da beide auf unterschiedliche Weise einflußreich waren und signifikant sind. Mit der Wahl der wissenschaftlichen Kontexttheorien kann die vorliegende Untersuchung an eine Reihe von Forschungsbeiträgen zur Literatur um 1900 anschließen,[51] die eben diese Theorien als Folie herangezogen, deren Emotionskonzepte aber nur am Rande berücksichtigt haben (Kapitel 6). Poetologische, alltagssprachliche und wissenschaftliche Thematisierungen von Emotionen lassen sich heuristisch mit Tendenzen der Modernisierung am Ende des 19. Jahrhunderts erklären. Grob gesagt, basieren sie auf einer gemeinsamen Problemlage, die sich in der Skepsis gegenüber rationalem Denken, in Plädoyers für andere Arten der Erkenntnis und in der Kritik an der zunehmenden Präsenz der Naturwissenschaften und deren Methoden des Weltzugangs manifestiert. Emotionen reihen sich in das Spektrum anderer Phänomene ein, die als ‘irrationalistisch’ bezeichnet werden, etwa die unio-Erlebnisse der Neomystiker, die Intuition als Erkenntnisform, das ‘Leben’ als höchstes Prinzip und oberster Wertmaßstab. Zu fragen ist aber, was gerade das Emotionskonzept auszeichnet und wie es sich zu den anderen zeitgenössisch propagierten ‘Irrationalismen’ verhält.

Auch im zweiten historischen Teil bestimmen die lyrikgeschichtlichen Kategorien und ihre Defizite Fragestellung und Korpuswahl mit. Thematisierungen und Strategien der Präsentation von Emotionen in Gedichten der Jahrhundertwende sollen analysiert werden. Einbezogen werden nicht nur die Gedichte, die lyrisch im engeren Sinne sind, also ‘Stimmungsgedichte’, sondern ich verwende ‘lyrisch’ in der weiteren Bedeutung als adjektivische Bezeichnung der Gattungszugehörigkeit[52] und fasse beispielsweise auch erzählende Gedichte darunter. Es fallen also potentiell alle Gedichte, die zwischen 1880 und 1910 erschienen sind,[53] in den Gegenstandsbereich dieser Arbeit. Um das Korpus genügend umfangreich, aber noch überschaubar zu halten, habe ich Gedichte gewählt, die in Anthologien veröffentlicht wurden: Die um 1900 publizierten Anthologien zeitgenössischer Lyrik enthalten Texte aller ‘Höhenlagen’, haben unterschiedliche Ziele und setzen damit auch verschiedene Auswahlkriterien ein, so daß Vielfalt gewährleistet ist, und sie stellen einen repräsentativen Querschnitt der zeitgenössischen Lyrikproduktion dar (Kapitel 8). Die vorliegende Untersuchung soll damit zu einer differenzierteren Auffassung der Lyrik der Jahrhundertwende beitragen.

Das ausgewertete Korpus umfaßt ca. 2600 Gedichte und wird unter drei Fragestellungen untersucht. Zunächst wird eine typologisierende Bestandsaufnahme vorgelegt, die neben den zeitspezifischen Strategien der textuellen Gestaltung von Emotionen auch solche aufnimmt wird, die typisch für Lyrik generell sind (Kapitel 9). Bezieht sich dieser Überblick auf alle untersuchten Gedichte, so sind für die zwei folgenden Anliegen Textgruppen auszuwählen. Zum einen soll die im Korpus am häufigsten thematisierte und präsentierte Emotion genauer untersucht werden: Trauer. Zu erarbeiten sind die Strategien, mit denen Trauer als ‘überkodierte’ Emotion in den Texten vermittelt wird, und die prototypischen Modelle, die dieser Vermittlung zugrundeliegen (Kapitel 10). Zum anderen ist die Frage aufzunehmen, wie und in welchem Ausmaß moderne Lyrik im oben erläuterten Sinne emotionsgeschichtlich gesehen von nicht-moderner zeitgenössischer Lyrik abweicht. Eine Antwort scheint nahezuliegen, trifft die Sache aber nicht: die Annahme, daß Emotionen mit Hilfe der sprachlichen und formalen Merkmale ausgedrückt werden, die die lyrikgeschichtliche Moderneforschung ohnehin berücksichtigt. Damit wäre also ‘das Neue’ in der Gestaltung von Emotionen, das die Lyriker um 1900 einfordern, bereits erfaßt, wenn man die innovativen formalen Merkmale moderner Lyrik analysiert. Diese Annahme ist jedoch zu restriktiv. Wie die Untersuchungen in Kapitel 11 ergeben werden, sind es Mischungs­verhältnisse verschiedener Merkmale, die die Gedichte der Jahrhundertwende charakterisieren. Neben inhaltlichen und formalen Eigenschaften kennzeichnen immer auch emotionsgestaltende Strategien, die diese Opposition übergreifen, die Texte, und typische Merkmalskombinationen ‘anerkannt moderner’ Gedichte z.B. Stefan Georges oder Hugo v. Hofmannsthals finden sich ebenfalls in Texten Leo Greiners, Otto Fal­ckenbergs und Marie Madeleines, um nur einige Autoren zu nennen. Betrachtet man ausschließlich die formalen Merkmale der Gedichte, so läßt sich dies nicht erkennen; vielmehr sind die Analysekategorien zu erweitern.

Es zeigt sich, daß die Bedeutung von Emotionen für die Lyrik um 1900 nicht im Schema des Traditionsbruchs erfaßt werden kann und sich weder mit Hilfe der sprachlich-strukturellen noch mit den weltanschaulichen Kriterien allein klären läßt. Zwar ist die lyrische Darstellung von Emotionen mit beiden Kriterien insofern funktional verbunden, als es ein zentrales Ziel formaler Gestaltung sein kann, Emotionen zu vermitteln, und das Emotionskonzept eines Autors oder Lesers von philosophischen, religiösen oder anthropologischen Annahmen verschiedener Art abhängig ist. Jedoch bilden Emotionen einen eigenständigen thematischen Untersuchungsbereich. Da Emotionskodes, wie in Kapitel 4 zu zeigen ist, Gedichte sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene bestimmen, überschneidet sich ihre Analyse mit den beiden Kriterien-Sets, die zur Abgrenzung von moderner und traditioneller Lyrik eingesetzt werden: Unter formalem Aspekt erlaubt die Rekonstruktion von Emotionskodes, alle sprachlichen und formalen Mittel einzubeziehen, unter inhaltlichem Aspekt erweitert sie die weltanschaulich-sezessionistischen um, grob gesagt, nicht-kognitive Inhalte. These ist, daß mit der systematischen Berücksichtigung unterschiedlicher Strategien der Gestaltung von Emotionen eine dritte Kategorie gewonnen wird, mit deren Hilfe sich Gedichte genauer beschreiben und lyrikgeschichtlich positionieren lassen.

 



[1]      P. Ernst: "Die falschen Gefühle", S. 273.

[2]      So z.B. I. A. Richards: Prinzipien der Literaturkritik, S. 82ff.

[3]      Langer etwa macht die Repräsentation von Emotionen zum zentralen Bestimmungsmerkmal von Kunst; vgl. S. K. Langer: Feeling and Form, S. 40: "Art is the creation of forms symbolic of human feeling."

[4]      E. Staiger: Die Kunst der Interpretation, S. 211.

[5]      Zu den Argumentationsstrategien vgl. exemplarisch R. v. Heydebrand: "Zur Analyse von Wertsprachen in der Zeitschrift Euphorion / Dichtung und Volkstum vor und nach 1945. Am Beispiel von Hans Pyritz und Wilhelm Emrich", S. 209ff. und öfter.

[6]      Die forschungsgeschichtlichen Ausnahmen werden in Kapitel 2 behandelt.

[7]      G. Braungart: Leibhafter Sinn, S. 216.

[8]      In der angloamerikanischen Forschung sieht die Lage anders aus: Hier wurde bereits Mitte der 70er Jahre eine Diskussion über die emotionale Wirkung von Literatur ins Leben gerufen und kontinuierlich weitergeführt, vor allem von philosophischer und ästhetischer Seite; siehe dazu die knappe Skizze unten, S. 37ff. In der Literaturwissenschaft der entsprechenden Länder wird die Tradition, in Interpretationen literarischer Texte auch nach deren emotionalem Gehalt zu fragen, ohnehin weniger problematisch gesehen als im deutschsprachigen Bereich.

[9]      Selbst zu einem besonders wichtigen Aspekt emotionaler Lese-Motivation, zum Lust-Aspekt des Lesens, liegen nur wenige Beiträge vor; am bekanntesten ist R. Barthes: Die Lust am Text, am umfassendsten T. Anz: Literatur und Lust; informativ auch L. Muth: "Leseglück als Flow-Erlebnis. Ein Deutungsversuch".

[10]     So etwa in den Sammelbänden J.-D. Krebs (Hg.): Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit; J. Schlaeger / G. Stedman (Hg.): Representations of Emotions; J. Schlaeger (Hg.): Representations of Emotional Excess; C. Benthien / A. Fleig / I. Kasten (Hg.): Emotionalität; vgl. auch den Ansatz von E. Scarry: Der Körper im Schmerz.

[11]     Um nur einige neuere Beiträge zu nennen: in der Psychologie H.-P. Kapfhammer: Entwicklung der Emotionalität, M. W. Battacchi / T. Suslow / M. Renna: Emotion und Sprache sowie populärwissenschaftliche Bücher wie A. R. Damasio: Descartes’ Irrtum und J. LeDoux: Das Netz der Gefühle; in der Soziologie J. Gerhards: Soziologie der Emotionen, H.-G. Vester: Emotion, Gesellschaft und Kultur; in der Philosophie C. Meier-Seethaler: Gefühl und Urteilskraft und S. Hübsch / D. Kaegi (Hg.): Affekte.

[12]     H. Alfes: Literatur und Gefühl, S. 115f.

[13]     Ebd., S. 115. Hinter diesen zweifelnden Fragen steht die konstruktivistische Grund­annahme, "daß es sich bei vermeintlichen Gegenstands-Eigenschaften jeglicher Art um [...] menschlich (biopsychosozial) bedingte und konstituierte Eigenschaften handelt" (ebd.; Hervorhebungen im Original).

[14]     Etwa H.-G. Vester: Emotion, Gesellschaft und Kultur, S. 93ff.

[15]     Siehe dazu unten, S. 44.

[16]     W. K. Wimsatt / M. C. Beardsley: "The Affective Fallacy". Wimsatt und Beardsley selbst vertreten im Gegensatz zur kritisierten "affective theory", deren Vertreter den Gehalt literarischer Texte mit emotionalen Wirkungen identifizieren, die Auffassung, daß Emotionen explizierbare Bestandteile des ‘poetischen Diskurses’ sind, "presented in their objects and contemplated as a pattern of knowledge" (ebd., S. 959). Leider führen die Verfasser diesen differenzierten Standpunkt nicht weiter aus.

[17]     Für einen radikal-konstruktivistischen Ansatz ist diese Annahme eines fundamentum in re allerdings in keinem Fall akzeptabel. Damit verschiebt sich aber der vermeintlich auf das Phänomen ‘Emotion’ bezogene auf einen methodenbezogenen Einwand. Dieselben Zweifel wären aus konstruktivistischer Perspektive angebracht, wenn es um die Rekonstruktion kognitiver Strukturen literarischer Texte ginge. Auch dann wären es nicht die kognitiven Textstrukturen, sondern die kognitiven Verarbeitungsprozesse, die erforscht werden müßten.

[18]     Vgl. dazu S. Winko: "Über Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten".

[19]     Im Unterschied zu Versuchen aus den 70er Jahren, die Disziplin auf der Basis von Standards zu reformieren, die aus der an Naturwissenschaften orientierten analytischen Wissenschaftstheorie übernommen wurden, werden heute meist die typischen ‘weichen’ Standards der Literaturwissenschaft akzeptiert, Thesen zu überprüfen, Schlußfolgerungen zu ziehen, Begriffe zu bilden und zu verwenden. Eine Lizenz zur Beliebigkeit wird damit allerdings nicht erteilt. Dazu beispielhaft W. Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft, z.B. S. 8, 10f.

[20]     Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 4.2.

[21]     So z.B. von D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 12, 57 und öfter.

[22]     H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, S. 29.

[23]     D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 135; ähnlich H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, S. 28f., 36f. und öfter; K. Leonhard: Moderne Lyrik, S. 11 und 48; weniger pauschal G. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Bd. 1, S. 267ff.

[24]     W. J. Mommsen: "Die Kultur der Moderne im Deutschen Kaiserreich", S. 877f.

[25]     H. Müller: Formen moderner deutscher Lyrik, S. 20; vgl. dazu auch die Bezeichnung der modernen Metapher als "evokatives Äquivalent" bei H. O. Burger / R. Grimm: Evokation und Montage, S. 15.

[26]     Auf die Debatte über diesen Begriff, der ideen-, sozial- und literaturgeschichtlich unterschiedlich bestimmt wird, soll hier nicht noch einmal eingegangen werden; vgl. dazu den maßgeblichen Artikel von H. U. Gumbrecht: "Modern, Modernität, Moderne" sowie die forschungskritischen, sozialwissenschaftliche Modernisierungs­theorien einbeziehenden Beiträge von U. Köster: "Die Moderne, die Modernisierung und die Marginalisierung der Literatur", J. Schönert: "Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne" und J. Schönert: "Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen". G. Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 29f., faßt die "kulturelle Moderne" als Prozeß auf, der am Ende des 19. Jahrhunders einsetzt, als die gemeinsame Basis zwischen Künstler und "bildungsbürgerliche[m] Publikum" zu verschwinden begann, und bestimmt seinen Gegenstandsbereich erfreulich weit: Die kulturelle Moderne setze sich aus den Produkten der ‘Höhenkamm-Künste’, der technisch-mechanischen und der Massenkünste zusammen.

[27]     Vgl. dazu die Kritik bei U. Köster: "Die Moderne, die Modernisierung und die Marginalisierung der Literatur", S. 369f.

[28]     D. Lamping: Moderne Lyrik, S. 8.

[29]     H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, S. 10.

[30]     Zum unterschiedlichen zeitgenössischen Verständnis dieses Begriffs vgl. H. U. Gumbrecht: "Modern, Modernität, Moderne", S. 120-126; zur speziellen Deutung des Begriff durch die ‘Wiener Modernen’ J. Le Rider: Das Ende der Illusion, S. 30-35; zum Problem der selbsternannten Moderne auch U. Japp: "Kontroverse Daten der Modernität", S. 130f.

[31]     Exemplarisch dazu: P. Sprengel: "Lyrik", S. 533. Allgemein zur Jahrhundertwende als Beginn der literarischen Moderne W. Rasch: "Aspekte der deutschen Literarur um 1900", S. 2f. und V. Zmegac: "Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende", S. IX-LI. Für viele Forscher setzt die deutschsprachige Moderne aber erst nach dem Naturalismus und in Opposition zu ihm ein; z.B. für M. Engel: "Rilke-Forschung heute", S. 110.

[32]     Die aufgeführten Merkmale finden sich an zahlreichen Stellen der historisch-klassifikatorischen Argumentation und der Gedichtanalysen z.B. in C. Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll; K. Leonhard: Moderne Lyrik; H. Lehnert: Struktur und Sprachmagie; H. Müller: Formen moderner deutscher Lyrik; W. H. Rey: Poesie der Antipoesie; E. Austermühl: Poetische Sprache und lyrisches Verstehen; M. Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, S. 24-37, 158-176; H. Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität; Lamping: Moderne Lyrik, S. 10, 18f. und öfter; G. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik. Bd. 1, S. 13-47.

[33]     Dazu K. R. Mandelkow: "Probleme der Wirkungsgeschichte", S. 109.

[34]     Ich verwende hier den unscharfen Begriff ‘weltanschaulich’, um das gesamte Kriterienbündel - erkenntnistheoretische, ontologische und ethische Zuschreibungen - zu erfassen.

[35]     Dazu auch D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 133.

[36]     So schon bei K. Leonhard: Moderne Lyrik, S. 46f.; für die Literatur um 1900 allgemein z.B. M. Fick: Sinnenwelt und Weltseele, S. 300.

[37]     Vgl. dazu J. Schönert: "Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen", S. 43-48.

[38]     So bei H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, S. 212 und öfter; auch H. Henel: "Erlebnisdichtung und Symbolismus".

[39]     Vgl. dazu z.B. W. H. Rey: Poesie der Antipoesie, S. 17.

[40]     Zur Erläuterung dieses oft übernommenen metaphorischen Begriffs Wittgensteins vgl. z.B. W. Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 23f.

[41]     Dazu ausführlicher ebd., S. 47ff.

[42]     Die charakteristische Verbindung der Modernitätsthese mit den beiden Kriterien-Sets zeigt sich in ‘fachfremden’ Adaptionen teilweise besonders deutlich, z.B. in Nipperdeys Ausführungen zur Lyrik um 1900. Zu Recht konstatiert er, daß die ‘modernen’ Lyriker die falschen, ‘verbrauchten’ Gefühle der Epigonen heftig kritisieren; daß damit aber nicht der Emotionsausdruck allgemein, sondern nur eine seiner historischen Spielarten abgelehnt wird, entgeht ihm. In den anschließenden Beschreibungen naturalistischer und symbolistischer Lyrik werden dann auch allein die bekannten formalen und weltanschaulichen Merkmale hervorgehoben; vgl. T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1, S. 768.

[43]     Die emotionalen Wirkungen einer verfremdenden Darstellung werden erst im empirischen Paradigma der Literaturwissenschaft systematisch untersucht; siehe dazu oben, Abschnitt 2.1.2.

[44]     Nur angemerkt sei hier, daß die Klassifikation und Aufwertung ‘postmoderner Literatur’ nach Maßgabe eines poststrukturalistischen Literaturbegriffs ähnlich funktioniert.

[45]     D. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 12: "[...] die Lyrik-Theorien haben offensichtlich zu wenig aus der Lyrik-Geschichte gelernt, und darum kann die Lyrik-Geschichtsschreibung, zumal die der Moderne, auch kaum von der Lyrik-Theorie profitieren."

[46]     Die Thesen reichen bekanntlich von strikter Entgegensetzung von Tradition und Moderne (paradigmatisch H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik) bis zu gemäßigteren Positionen, die die Integration traditioneller Elemente in moderne Lyrik behaupten (paradigmatisch W. H. Rey: Poesie der Antipoesie).

[47]     H. Schwerte: "Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter", S. 10ff.

[48]     Zwar werden in vielen Einzeluntersuchungen zur modernen Literatur und auch Lyrik formale und inhaltliche Traditionsbezüge berücksichtigt; die schematische Entgegensetzung von moderner und traditioneller Literatur ist aber noch immer ein geläufiger Topos. Forschungen zur Jahrhundertwende, die die Momente der Kontinuität nicht ausreichend beachten, kritisieren z.B. H. Koopmann: Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920, S. 11, H. Thomé: Autonomes Ich und ‘Inneres Ausland’, S. 398, auch G. Braungart: Leibhafter Sinn, S. 2ff.

[49]     So neuere Modernisierungsansätze wie A. Giddens: "Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft", vor allem S. 144-194; auch T. Mergel: "Geht es weiterhin voran?", S. 229.

[50]     Zu den Schwierigkeiten solcher Begrenzung vgl. noch einmal U. Japp: "Kontroverse Daten der Modernität", S. 132ff.

[51]     Um nur einige neuere zu nennen: mit dem Schwerpunkt auf monistischen Denkformen M. Fick: Sinnenwelt und Weltseele; umfassende Rekonstruktionen psychologischen und psychiatrischen Wissens des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und seiner literarischen Rezeption bei H. Thomé: Autonomes Ich und ‘Inneres Ausland’; unter dem Aspekt, welche Funktion in philosophischen, psychologischen und ästhetischen Theorien um 1900 körperbezogenen Prozessen zugeschrieben werden, G. Braungart: Leibhafter Sinn; mit einem Schwerpunkt auf der für diese Zeit wichtige Schopenhauer-Rezeption W. Riedel: "Homo natura".

[52]     Ebenso D. Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, S. 20.

[53]     Mit dieser zeitlichen Begrenzung schließe ich mich Datierungsvorschlägen von Zmegac, Wunberg und anderen an; vgl. V. Zmegac: "Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende", S. X; G. Wunberg / S. Dietrich (Hg.): Die literarische Moderne, S. 11. Zu diesem ‘stilneutralen’ Verständnis des Epochenbegriffs ‘Jahrhundertwende’ vgl. auch A. Brendecke: Die Jahrhundertwenden, S. 222f. Expressionistische Gedichte werden explizit nicht mehr in das Korpus aufgenommen, weil sich ihre Formen sowie die Strategien der Emotionsgestaltung bereits wieder von denen der Lyrik um 1900 unterscheiden, die hier als Einheit analysiert werden soll.