Simone Winko
Forschungsgebiete
- Theorie der Literatur und Methodologie der Literaturwissenschaft
- Theorie der Wertung von Literatur und Kanonbildung
- Literatur um 1900
- Digitale Literatur
- Literaturwissenschaft und Linguistik
- Praxis der Literaturwissenschaft
Aktuelle Forschungsprojekte
Der Beginn der modernen Lyrik. Literaturgeschichte mittels
Textähnlichkeit modellieren (Jannidis, Würzburg/Winko, Göttingen)
Der Übergang des Realismus, der dominanten Kunstform des 19. Jahrhunderts, zur frühen Moderne an der Wende zum 20. Jahrhundert wurde von den Zeitgenossen damals und seither von der Literaturgeschichte als tiefgreifende Veränderung gesehen, die viele formale und inhaltliche Aspekte betrifft. Das gilt auch für die Lyrik. Aber während heute nur noch eine kleine Gruppe von Dichtern und Gedichten als ‚modern‘ angesehen wird, haben die Zeitgenossen dieses Attribut auf erheblich mehr Texte angewendet, wie man zum Beispiel an den zahlreichen um 1900 veröffentlichten Anthologien mit ‚moderner Lyrik‘ erkennen kann. Eines der Hauptziele unseres Projekts ist es, diese Diskrepanz zu verstehen: Ignoriert die Literaturgeschichte moderne Merkmale in vielen Gedichten um 1900 oder haben die Zeitgenossen Veränderungen und Innovationen wahrgenommen, wo es keine gab?Um diese Frage zu beantworten, haben wir und in der ersten Projektphase (2020-2023) mit der Ähnlichkeit von Texten befasst: Unsere leitende Annahme ist, dass modernere Texte einander ähnlicher sind als traditionelleren Texten. Ähnlichkeit ist aber immer mit einer bestimmten Perspektive verbunden. Die Dimensionen, unter denen Zeitgenossen und Literaturhistoriker die Hauptunterschiede zwischen der Lyrik des Realismus und der frühen Moderne sehen, sind meist die gleichen: neue Themen, neue Formen und eine neue Art der Darstellung und des Ausdrucks von Emotionen in Gedichten. Wir haben all diese Aspekte behandelt und zu diesem Zweck mit unterschiedlich großem Aufwand vorliegende Methoden angepasst bzw. erneuert. Die Entwicklung neuer Methoden konzentrierte sich auf semantische Textähnlichkeit und auf sentiment analysis oder genauer: auf Emotionsanalyse. Die Messung der Textähnlichkeit von kurzen Texten wie Gedichten ist eine große Herausforderung, aber seit der Einführung von word2vec und anderen Formen des word embeddings hat sich die Situation deutlich verbessert. In der Anwendung dieser Ansätze auf historische Texte und insbesondere auf eine Gattung wie die Lyrik liegt eine weitere Herausforderung: Das Vokabular der Lyrik unterscheidet sich deutlich von dem anderer literarischer Gattungen; es ist z.B. gekennzeichnet durch die Verwendung von ‚altmodischen‘ Ausdrücken und zugleich von Neologismen, von denen viele Komposita sind. Einer unserer Schwerpunkte liegt auf der Bestimmung, welcher Ansatz der word embeddings für unsere Beispielfälle vorzuziehen ist und wie diese verwendet werden können, wenn Dimensionen wie die allgemeine Semantik wiedergegeben werden sollen. Den zweiten Schwerpunkt macht die Entwicklung eines historischen Emotionslexikons aus, das anachronistische Zuordnungen vermeidet.
In der zweiten Projektphase (2023-2026)wird das schwierig zu erfassende Phänomen des literarischen Wandels mit einem anderen Ansatz untersucht. Basis hierfür ist zum einen eine komplexe Modellierung des Übergangs vom Realismus zur frühen Moderne, zum anderen ein großes digitales Korpus mit Texten verschiedener Genres (Lyrik, Prosa, Drama, Zeitschriftenartikel). In den den Korpustexten werden exemplarisch drei in der Forschung oft genannte Parameter des Wandels zur frühen Moderne untersucht (Geschlechterbeziehungen, Technologie sowie philosophische und wissenschaftliche Anthropologie) und anhand der Textdimensionen ‚Inhalt‘, ‚Stil‘ und ‚Emotionsgestaltung‘ analysiert. In die Analysen werden literarische und außerliterarische Kontexte, auch in Form von Zeitreihen, einbezogen. Unter anderem wird untersucht, ob Lyrik durch diese Kontexte beeinflusst wird, ob sie diese beeinflusst oder von ihnen unabhängig ist. Das Projekt soll auch zu einem integrativen Modell literarischen Wandels beitragen.
Das Herstellen von Plausibilität in Interpretationstexten. Untersuchungen zur Argumentationspraxis in der Literaturwissenschaft
Das von der DFG geförderte Projekt „Das
Herstellen von Plausibilität in
Interpretationstexten. Untersuchungen zur Argumentationspraxis in der
Literaturwissenschaft“ erforscht die argumentative Praxis des
literaturwissenschaftlichen Interpretierens.
Anhand von ca. 100 Interpretationen, die zwischen 1995 und 2015 in
philologischen Fachpublikationen erschienen sind, wird untersucht,
welche Strategien in Interpretationstexten eingesetzt werden,
um Thesen zu plausibilisieren. Die beiden Teilkorpora setzen sich aus
Interpretationen zu zwei kanonischen und vielinterpretierten
Erzähltexten der deutschen Literatur zusammen: Annette von
Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ und Heinrich von Kleists „Michael
Kohlhaas“.
Die praxeologisch ausgerichtete Untersuchung greift Studien der 1970er-Jahre
auf und verbindet sie mit aktuellen Konzepten des Argumentierens als
einer sozialen Praxis. Es wurde ein eigenes kriteriengestütztes
Verfahren auf hermeneutischer Basis entwickelt, das die
Argumentationsstruktur und -dynamik der
Texte unter systematischer Berücksichtigung der verwendeten
Darstellungsmittel erfasst. Das Projekt trägt dazu bei, genauere
Kenntnisse über eine besonders wichtige und funktionierende, aber kaum
erforschte Praktik des Erzeugens und Vermittelns von Wissen in der
Literaturwissenschaft zu gewinnen und implizite Regeln offenzulegen,
die fach- oder bereichsspezifisch gelten. Ein positiver Nebeneffekt
dieser Kenntnisse könnte die Verbesserung der innerfachlichen
Kommunikation über argumentative Praktiken sein.
Zu weiteren Projekten und Initiativen